Die Guatemalteken haben nach einem turbulenten Wahlkampf in einer Stichwahl über eine neue Präsidentin oder einen neuen Präsidenten entschieden. Der sozialdemokratische Überraschungskandidat Bernardo Arévalo galt dabei als Favorit.
Der Außenseiter von der Partei Movimiento Semilla (Bewegung Saatkorn) lag in den Umfragen klar vor der Ex-First Lady und dreimaligen Präsidentschaftskandidatin Sandra Torres, die als Vertreterin der Eliten gilt. Auf der Suche nach einer breiteren Wählerschaft rückte Torres von der Mitte-Links-Partei Nationale Einheit der Hoffnung (UNE) zuletzt zunehmend nach Mitte-rechts.
»Heute müssen wir wählen. Wir alle haben das Recht und das Privileg, unsere Meinung zu äußern, um die Zukunft des Landes zu gestalten«, sagte Arévalo nach der Stimmabgabe in der Hauptstadt Guatemala-Stadt, wie die guatemaltekische Zeitung »Prensa Libre« berichtete. Die Wahllokale sollen nach mitteleuropäischer Zeit um 2 Uhr morgens am Montag schließen, erste Ergebnisse werden dann im Laufe der Nacht erwartet.
Zweifel an fairen Bedingungen
Der Wahlprozess in Guatemala war von Versuchen der politischen Elite und der Generalstaatsanwaltschaft beeinträchtigt gewesen, den mit der Hoffnung auf Wandel verbundenen überraschenden Aufstieg Arévalos (64) mit juristischen Mitteln zu stoppen. Die Europäische Union hatte darüber ihre Besorgnis geäußert. Mehrere Kandidaten waren vom ersten Wahlgang aus umstrittenen Gründen ausgeschlossen worden.
Oppositionelle und unabhängige Experten zogen in Zweifel, dass die Wahlen unter fairen Bedingungen stattfanden. Anerkannte frühere Korruptionsermittler im Exil sowie Aktivisten sprachen von einem »Pakt der Korrupten« - einer informellen Allianz zwischen politischen, wirtschaftlichen, juristischen und kriminellen Akteuren zum Schutz der eigenen Interessen.
Im Juni war Arévalo, der gegen die Korruption und Erosion der Demokratie in Guatemala vorgehen will, unerwartet zweitstärkster Kandidat im ersten Wahlgang geworden. Auf dem ersten Platz landete Torres. Der konservative Amtsinhaber Alejandro Giammattei durfte nach einer vierjährigen Amtszeit laut Gesetz nicht erneut antreten.
Der frühere Diplomat, Experte für Konfliktlösung und Abgeordnete Arévalo ist der Sohn des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Guatemalas, Juan José Arévalo (1945-1951). Seine progressive Partei war nach den Bürgerprotesten gegen Korruption in Guatemala von 2015 entstanden.
Torres äußerte sich der Zeitung »Prensa Libre« zufolge bei der Stimmabgabe nicht. Auf der Plattform X, die früher Twitter hieß, schrieb die 67-Jährige, die die erste Frau in dem Amt in Guatemala wäre, dem »Wandel in unserem Land völlig verpflichtet« zu sein.
Große Unzufriedenheit
Tausende Menschen verlassen das mit 17 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichste Land Mittelamerikas jeden Monat und versuchen auf der Suche nach einem besseren Leben, über Mexiko in die USA zu reisen. Weitere wichtige Themen für die Guatemalteken sind Kriminalität, Inflation und Arbeitslosigkeit.
Arévalo dürfte nach Ansicht von Beobachtern nun die Stimmen weiterer Wählerinnen und Wähler gewinnen, die mit den derzeitigen Verhältnissen im Land unzufrieden sind. In den Umfragen für den zweiten Wahlgang am Sonntag gaben mehr als 60 Prozent der Befragten an, für Arévalo stimmen zu wollen.
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