Bei einem der größten Polizeieinsätze gegen Extremisten in Deutschland sind 25 Menschen aus der Reichsbürgerszene festgenommen worden, die wohl das politische System stürzen wollten. Sie stehen nach Angaben der Bundesanwaltschaft im Verdacht, eine terroristische Vereinigung gebildet zu haben, die mit Waffengewalt eine neue Regierung installieren wollte und auch Tote in Kauf genommen hätte. Die Nachricht löste am Mittwoch Entsetzen aus.
Unter den Festgenommenen sind die Richterin und frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann sowie ein Soldat des Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr. Als einer der Rädelsführer gilt der Unternehmer Heinrich XIII. Prinz Reuß aus Hessen. Er und erste weitere Verdächtigen wurden inzwischen in Untersuchungshaft genommen, wie Generalbundesanwalt Peter Frank in Karlsruhe sagte.
Die Bundesanwaltschaft wirft den Beschuldigten Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung oder deren Unterstützung vor. Sie hingen Verschwörungsmythen an, erklärte Frank. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sagte, die Ermittlungen ließen »in den Abgrund einer terroristischen Bedrohung« blicken. Bei der Razzia im Morgengrauen sei es um »staatsfeindliches Handeln von rechts« gegangen.
»Anti-Terror-Einsatz«
Bundesjustizminister Marco Buschmann bezeichnete die Polizeiaktion in elf Bundesländern sowie in Italien und Österreich als »Anti-Terror-Einsatz«. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang wertete sie als wichtigen »Schlag gegen militante und weit vernetzte Teile der Reichsbürgerszene«. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte dem Radiosender MDR Aktuell, sollte sich bestätigen, dass terroristische Straftaten in Vorbereitung seien, müsse gehandelt werden. »Dann muss auch das Strafrecht Grenzen setzen.«
»Reichsbürger« sind Menschen, die die Bundesrepublik und ihre demokratischen Strukturen nicht anerkennen. Der Verfassungsschutz rechnet der Szene rund 21.000 Anhänger zu. »Die Szene ist nach wie vor sehr aktiv und dynamisch und hat im vergangenen Jahr erneut erheblichen Zulauf erhalten«, erklärte Behördenchef Haldenwang.
Die Ermittlungen ergeben laut Bundesanwaltschaft bisher folgendes Bild: Spätestens Ende November 2021 sollen die Beschuldigten die Vereinigung gegründet haben. Strukturen für eine eigene Staatsordnung hätten sie in Grundzügen schon ausgearbeitet. Als Staatsoberhaupt hätte Heinrich XIII. Prinz Reuß fungieren sollen. Auch Ressorts seien schon verteilt gewesen: So hätte die ehemalige Bundestagsabgeordnete für Justiz zuständig sein sollen, sagte Frank.
Gezielte Ansprachen
Für den Umsturz seien gezielt Soldaten und Polizisten angesprochen worden, teilte die Bundesanwaltschaft mit. Ein weiterer Plan war den Ermittlungen zufolge, mit einer kleinen bewaffneten Gruppe gewaltsam in den Deutschen Bundestag einzudringen.
Rund 3000 Polizeibeamte waren in elf Bundesländern im Einsatz. 22 der Festgenommenen wirft die Bundesanwaltschaft vor, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein. Drei gelten als Unterstützer. Mit Ausnahme einer Russin haben alle die deutsche Staatsbürgerschaft.
Zudem gebe es 27 weitere Beschuldigte. Laut Frank stellten die Beamten bei rund 150 Durchsuchungen umfangreiches Material sicher. Nach dpa-Informationen wurden in mehreren Dutzend Objekten Waffen gefunden. Mehrere der Verdächtigen verfügen über eine waffenrechtliche Erlaubnis, was ein Grund ist für die hohe Zahl von Spezialkräften, die an der Razzia beteiligt waren.
Von geheimen Mächten und Allianzen
Die Mitglieder der Vereinigung seien der festen Überzeugung, dass Deutschland derzeit von Angehörigen eines sogenannten »tiefen Staats« regiert werde, hieß es in der Mitteilung der Bundesanwaltschaft. Sie erwarteten, dass eine »Allianz« sie befreie. Das sei ein technisch überlegener Geheimbund von Regierungen, Militärs und Nachrichtendiensten verschiedener Staaten, einschließlich der Russischen Föderation sowie der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Vereinigung gehe fest davon aus, deren Angriff stehe kurz bevor.
Hinter den in Verschwörungsmythen verwendeten Begriffen »Deep State« oder »tiefer Staat« versteckt sich die Idee, im Hintergrund von politischen Entscheidungen zögen geheime Mächte die Fäden.
Zentrales Gremium der Gruppe sei ein »Rat«. Dieser verfüge ähnlich wie das Kabinett einer regulären Regierung über Ressorts wie Justiz, Außen und Gesundheit. »Die Mitglieder des «Rates» haben sich seit November 2021 regelmäßig im Verborgenen getroffen, um die angestrebte Machtübernahme in Deutschland und den Aufbau eigener Staatsstrukturen zu planen«, teilte die Bundesanwaltschaft mit.
Mit den alliierten Siegermächten des Zweiten Weltkriegs hätte eine Übergangsregierung die neue staatliche Ordnung in Deutschland verhandeln sollen. »Zentraler Ansprechpartner für diese Verhandlungen ist aus Sicht der Vereinigung derzeit ausschließlich die Russische Föderation.« Kremlsprecher Dmitri Peskow bezeichnete die Razzia prompt als innerdeutsche Angelegenheit.
Beseitigung der Demokratie geplant
Ein »militärischer Arm« sollte den demokratischen Rechtsstaat auch auf Ebene der Gemeinden, Kreise und Kommunen »beseitigen«, hieß es. Der Vereinigung sei bewusst, dass es dabei zu Toten kommen werde. Das nehme sie aber als notwendigen Zwischenschritt zum angestrebten Systemwechsel billigend in Kauf. »Dieser militärische Arm soll eine neue deutsche Armee aufbauen«, sagte Generalbundesanwalt Frank. Heimatschutzkompanien sollten dafür gegründet werden.
»Einzelne Mitglieder dieses militärischen Armes waren nach unserer Erkenntnis in der Vergangenheit auch aktiv in der Bundeswehr tätig«, sagte Frank. Unter den Verdächtigen sind laut Verteidigungsministerium drei Soldaten, darunter als aktiver Bundeswehrangehöriger ein Soldat des KSK sowie zwei nicht aktive.
Vor allem wollte die Vereinigung den Angaben zufolge auch Angehörige der Bundeswehr und Polizei für den geplanten Staatsumsturz rekrutieren. Bei mindestens vier Treffen in Baden-Württemberg im Sommer hätten mutmaßliche Mitglieder für die terroristische Vereinigung und ihre Ziele geworben. Angehörige des »militärischen Arms« hätten Bundeswehrkasernen in Hessen, Baden-Württemberg und Bayern ausgekundschaftet, »um sie auf ihre Tauglichkeit für die Unterbringung eigener Truppen nach dem Umsturz zu inspizieren«.
Malsack-Winkemann noch immer am Landgericht Berlin
Dass die ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Malsack-Winkemann unter den Verdächtigen sei, beunruhige sehr, sagte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich (SPD). Die Juristin saß von 2017 bis 2021 für die AfD im Parlament. Im März 2022 kehrte sie in den Richterdienst zurück und ist am Landgericht Berlin tätig. Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) will die Beschuldigte vollständig aus dem Richterdienst »entfernen«.
Noch am Mittwoch wurde der Geschäftsverteilungsplan so geändert, dass Malsack-Winkemann zunächst nicht mehr an aktuellen Entscheidungen des Landgerichts Berlin beteiligt ist. Die Juristin sei aus der Zivilkammer ausgeschieden, die für Bausachen zuständig sei, teilte eine Sprecherin des Gerichts auf Anfrage mit.
Festgenommen wurden Verdächtige den Angaben zufolge in Baden-Württemberg (8), Bayern (4), Hessen (3), Niedersachsen (3), Sachsen (2), Thüringen (2) und Berlin (1) sowie jeweils eine Person in Österreich und Italien. Durchsuchungen habe es darüber hinaus in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland gegeben.
Ausgangspunkt der Ermittlungen sollen Verbindungen von Mitgliedern der nun ausgehobenen Vereinigung zu Angehörigen der Gruppe »Vereinte Patrioten« sein, die im April festgenommen worden waren und wohl Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) entführen wollten.
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