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Grausame Erinnerungen und Aufbaupläne: Habeck in der Ukraine

Klaffende Krater in einigen Straßen erinnern an die Gegenwart des Krieges in der Ukraine. Und die Dorfbewohner, die durch die Hölle gingen. Vizekanzler Habeck reist hin - und blickt auch nach vorn.

Vizekanzler Habeck in der Ukraine
Vizekanzler Robert Habeck neben dem ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj in dem Schulkeller in Jahidne, in dem Geiseln gehalten wurden. Foto: Christoph Soeder
Vizekanzler Robert Habeck neben dem ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj in dem Schulkeller in Jahidne, in dem Geiseln gehalten wurden.
Foto: Christoph Soeder

Jahidne ist ein feuchtkaltes Nest an diesem Montag Anfang April. Hähne krähen, es riecht nach den Kiefern, die das Schulgebäude umringen. Hinter Absperrband steht eine Gruppe Dorfbewohner und beobachtet, was üblicherweise passiert, wenn Wolodymyr Selenskyj auftaucht: Eine Kolonne schwerer schwarzer Geländewagen braust heran, vermummte Soldaten mit dem Finger am Abzug steigen aus, Sicherheitskräfte mit ihren Augen überall umringen das Gelände. Der Präsident der Ukraine schüttelt Robert Habeck die Hand.

Die beiden treffen sich in Jahidne, weil hier vor gerade einmal einem Jahr mehrere Hundert Menschen eine Version der Hölle auf Erden erlebten. Als russische Truppen Anfang März 2022 in das verschlafene Dorf in der Nordukraine einmarschierten, pferchten sie rund 350 Einwohner im Keller der Schule über Wochen zusammen, der Platz reichte kaum, um sich einmal zu setzen oder gar hinzulegen. Elf überlebten die unmenschlichen Bedingungen laut Selenskyj nicht. Mehr als ein weiteres Dutzend Bewohner sollen die russischen Besatzer ermordet haben.

»All unsere Partner müssen diese Keller sehen, um zu verstehen, dass sie der Ukraine helfen müssen«, sagt Selenskyj, als er und der deutsche Vizekanzler den Keller wieder verlassen haben. »Alles, was man dem Präsidenten Russlands wünschen kann, ist, dass er die ihm verbleibenden Tage im Keller mit einem Eimer anstelle einer Toilette verbringt.«

Selenskyj wünscht sich mehr Hilfen

Die Ukraine brauche mehr Unterstützung, antwortet Selenskyj auf die Frage, wie zufrieden er mit der deutschen Militärhilfe sei - aber auch der von den USA, Großbritannien und der EU. Man sehe ja, was Russland anrichte, sagt er, die Schule im Rücken und Habeck an der Seite.

Habeck ist ein später Ukraine-Reisender, viele deutsche Minister und Kanzler Olaf Scholz (SPD) waren vor ihm da. Von ihnen allen muss er allerdings wohl am wenigsten beweisen, wie ernst es ihm schon seit längerem mit der Unterstützung für das angegriffene Land ist. Im Mai 2021 war er das letzte Mal in der Ukraine, und machte sich bei den Grünen, deren Vorsitzender er damals noch war, mit seinem Ruf nach einer Lieferung von »Defensivwaffen« für die Ukraine unmöglich. Die damals noch schwarz-rote Bundesregierung erteilte der Forderung eine Absage. Russland hatte schon 2014 die Schwarzmeer-Halbinsel Krim völkerrechtswidrig annektiert.

»Jetzt sind wir weiter, und das ist gut, und das ist richtig«, sagt Habeck heute. »Ich glaube, wir haben trotzdem noch ein bisschen zu erklären, warum das alles so lange gedauert hat und warum wir vor dem Angriffskrieg nicht bereit waren, die Ukraine zu unterstützen.« Aber der radikale Sinneswandel werde gesehen.

Geradezu überschwänglich loben ukrainische Regierungsvertreter inzwischen regelmäßig die deutschen Waffensysteme. Die Verstimmungen über die lange als zögerlich wahrgenommene Haltung der Bundesregierung scheinen beigelegt. Besonderer Dank gilt den Deutschen neben der Lieferung des Flugabwehrsystems Iris-T vor allem wegen der Leopard-2-Panzer für die in den nächsten Wochen erwartete Frühjahrsoffensive der Ukrainer.

Die von der Ukraine erhofften Lieferungen von Kampfjets hätten keine Rolle gespielt bei seinen Gesprächen mit Selenskyj, sagt Habeck später. Es sei um Unterstützung in Rüstungsfragen gegangen, und zwar vor allem um Munitionsbeschaffung für Panzer, die schon in der Ukraine seien.

Habeck macht Hoffnung für Wiederaufbau

Habeck ist allerdings insbesondere als Wirtschaftsminister angereist und hat etwas mitgebracht: »Eine Wirtschaftsdelegation, die der Ukraine die Hoffnung macht, dass es nach dem Krieg wieder einen Wiederaufbau geben wird.« Im nächtlichen Sonderzug mitgereist sind Verbandschefs wie der BDI-Präsident Siegfried Russwurm, Manager und eine Vertreterin der Förderbank KfW. »Konkrete Investitionsentscheidungen« seien entweder schon gefallen oder sollten noch getroffen werden, sagt Habeck. Auch die Energiepartnerschaft Deutschlands mit der Ukraine will der Grünen-Politiker neu auflegen, um das ukrainische Energiesystem wieder aufzubauen, es abzusichern und klimafreundlicher zu machen.

Aufzubauen gibt es vieles in der Ukraine. Zum Beispiel die bei einem russischen Luftangriff im vergangenen Frühjahr zerstörte Hochbrücke über den Fluss Desna im Norden des Landes. Auf einem erhaltenen Teil stehen Habeck und Selenskyj am Mittag, während unter ihnen Autos über eine schwimmende Behelfsbrücke fahren. Den halben Tag verbringen die beiden gemeinsam. Der Gouverneur der Provinz Tschernihiw, Wjatscheslaw Tschaus, schildert das finanzielle Ausmaß der Zerstörung, Habeck fragt nach, am Ende rechnen alle drei. Mit 2,4 Milliarden ukrainischer Hrywnja veranschlagt der Gouverneur die Kosten für die Reparatur der Brücke, die Teil einer wichtigen Verkehrsader ist. Umgerechnet rund 60 Millionen Euro.

Die Ukraine wolle jetzt »ein starkes Zeichen des Wiederaufbaus« setzen, sagt Habeck. Das Land erhoffe sich, dass Unternehmen Investitionsentscheidungen träfen und Projekte entwickelten. Im Fall der Ukraine habe die Bundesregierung entgegen ihrer üblichen Praxis entschieden, Garantien für Investitionen zu geben. »Was geleistet werden muss, ist, dass es eine Investitionssicherheit gibt. Und die geben wir.«

© dpa-infocom, dpa:230403-99-196283/3