Mit einem Bekenntnis zu realpolitischen Zwängen und Verantwortung haben die Grünen ihren Bundesparteitag in Bonn begonnen. Mit den Worten »Ob wir es wollen oder nicht - am Ende werden wir die Welt gerettet haben müssen«, gab die Bundesgeschäftsführerin Emily Büning in ihrer Begrüßungsrede den Kurs für die nächsten Tage vor.
»Wir machen Politik für die Realität, die da ist«, betonte die Parteivorsitzende Ricarda Lang. Mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sagte sie: »Ich bin davon überzeugt, dass wir mehr Waffen liefern müssen, dass wir schneller werden müssen - die Zeit der Zögerlichkeit ist vorbei.« Wer deshalb die Rolle der Grünen als Friedenspartei infrage gestellt sehe, müsse wissen, der einzige Kriegstreiber in diesem Konflikt sei der russische Präsident Wladimir Putin. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sagte: »Putin darf nicht gewinnen, nicht auf dem Schlachtfeld und nicht bei dem Wirtschaftskrieg gegen Europa und gegen Deutschland«.
»Investieren wir uns raus aus dieser Krise«, appellierte Habeck mit Blick auf die wirtschaftlichen Folgen des Konflikts mit Russland. Viele Grüne erlebten Anfeindungen, fuhr er fort. »Weil wir für all das stehen, was Putin und seine deutschen Trolle hassen.«
Delegierte unterstützen Einsatzreserve für Akw
In der Atomkraft-Debatte haben die Grünen ihrem Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck den Rücken gestärkt. Die beiden süddeutschen Atomkraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 sollten bis zum 15. April in einer Reserve gehalten und bei Bedarf weiter für die Stromerzeugung genutzt werden, beschlossen die Delegierten mit einer klaren Mehrheit. Das dritte noch verbleibende AKW Emsland hingegen soll zum 1. Januar 2023 endgültig abgeschaltet werden.
Die Beschaffung neuer Brennelemente lehnten die Delegierten ab. »Bündnis 90/Die Grünen werden im Bundestag keiner gesetzlichen Regelung zustimmen, mit der neue Brennelemente, noch dafür notwendiges neues angereichertes Uran beschafft werden sollen«, heißt es im beschlossenen Antrag.
Die mehreren Hundert Delegierten bekräftigten damit jene Linie, die führende Grüne wie die beiden Parteichefs Ricarda Lang und Omid Nouripour in den vergangenen Tagen in der Auseinandersetzung mit der FDP vertreten hatten. Lang hatte den Einkauf neuer Brennstäbe noch kurz vor dem Parteitag im Gespräch mit dem »Spiegel« als »rote Linie« bezeichnet. Ein gegnerischer Antrag, der ein Aus für alle deutschen Atomkraftwerke gefordert hatte, scheiterte.
Abstimmungsergebnis soll bindend sein
Die Parteispitze hatte kurz vor dem Parteitag betont, das Ergebnis der Abstimmung zu diesem Thema sei für die anstehenden Gespräche mit SPD und FDP bindend. »Warum sollen wir sie sonst beschließen?«, antwortete Nouripour auf eine entsprechende Frage von Journalisten.
Bundesgeschäftsführerin Büning sagte: »Wohin uns 16 Jahre Unionspolitik geführt haben, das sehen wir jetzt.« CDU und CSU hätten die Wende hin zu mehr Energie aus erneuerbaren Quellen nicht nur verschlafen, sondern »aktiv sabotiert«. Lang kritisierte, die Union sei »eine Dagegen-Opposition, die keinerlei Konzepte hat«. An die Adresse vor allem der AfD und ihrer Anhänger sagte Lang: »Demokratie lässt sich nicht wegbrüllen.«
Erwartet wurden die Delegierten am Nachmittag in Bonn von einigen Dutzend Demonstranten, die unter anderem gegen den geplanten Braunkohle-Abbau im nordrhein-westfälischen Lützerath und gegen die grüne Wirtschaftspolitik protestierten. Die Kritik an der Entscheidung, die Ortschaft abzubaggern, war auch im Saal sichtbar. Während die grüne NRW-Wirtschaftsministerin Mona Neubaur vorne auf der Bühne über den Ausstieg aus der Kohleverstromung 2030 sprach, hob hinten in der letzten Reihe ein junger Delegierter aus Baden-Württemberg ein Pappschild mit der Aufschrift »Lützi bleibt« in die Höhe.
Positive Bilanz aus Koalition
Habeck zog eine positive Bilanz der grünen Beteiligung an der Koalition mit SPD und FDP. Er verwies etwa auf die Nachfolge für das 9-Euro-Ticket, den höheren Mindestlohn, geplante Änderungen im Einwanderungsrecht und Regeln für mehr Tierwohl. Zur Stimmung in der Koalition sagte er: »Ich will nicht schönreden, dass es an vielen Stellen manchmal hakt.« Sarah-Lee Heinrich, Vorsitzende der Grünen Jugend, rief dazu auf, »sich nicht von einer deprimierten FDP auf der Nase herumtanzen lassen«, sondern die Schuldenbremse für 2023 auszusetzen. Menschen, die nicht mehr wüssten, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollten, interessiere nicht, wer im Kabinett was entschieden habe.
Kritik von einzelnen Delegierten gab es an den Entlastungspakten der Bundesregierung, die den als Folge des Krieges gestiegenen Energiepreisen entgegenwirken sollen. Hier werde zu viel Geld nach dem »Gießkannenprinzip« verteilt, sagte Susanne Hilbrecht aus Dithmarschen. Die baden-württembergische Landesvorsitzende, Lena Schwelling, forderte angesichts notwendiger Hilfen für Menschen mit geringen Einkommen auch einen kritischen Blick auf Ausgaben und Vorschriften, die Städte und Gemeinden belasteten. »Wir müssen das Wünschenswerte vom Notwendigen unterscheiden«, verlangte sie.
Bürgergeld erst ein Anfang
Die Delegierten billigten mit großer Mehrheit einen Antrag zum sozialen Zusammenhalt in Zeiten der Inflation. Darin wird betont, dass das neue Bürgergeld und die Erhöhung der Leistungen der Grundsicherung zwar richtig, aber nicht ausreichend seien - vor allem angesichts der aktuellen enormen Preissteigerungen. Ein Vorschlag, an die Entwicklung der Inflation gekoppelte sogenannte Indexmieten grundsätzlich zu verbieten, setzte sich nicht durch.
Mit dem Bürgergeld will die Ampel-Koalition zum 1. Januar 2023 das Hartz-IV-System in seiner heutigen Form ablösen. Mit ihrem dritten Entlastungspaket Anfang September hatten SPD, Grüne und FDP zudem beschlossen, dass die Regelsätze für die rund fünf Millionen Bezieher der Grundsicherung um 50 Euro steigen sollen. Etwa für alleinstehende Erwachsene steigt er von 449 auf 502 Euro. Künftig soll der Bedarf vorausschauend an die Teuerungsraten angepasst werden.
Für das Wochenende sind Debatten zum Klimaschutz und zu außenpolitischen Fragen vorgesehen. Dazu gehören beispielsweise umstrittene Rüstungsexporte, etwa nach Saudi-Arabien. Und es geht um die Frage, ob die Bundesregierung laut genug gegen die Niederschlagung der Proteste im Iran protestiert.
© dpa-infocom, dpa:221014-99-126817/8