Dem Koalitionsfrieden und EU-Partnern zuliebe zustimmen? Oder doch lieber ein Veto einlegen? Bei den Verhandlungen über eine weitreichende Reform des EU-Asylsystems könnte für die Führung der deutschen Grünen heute eine ihrer vielleicht schwersten politischen Entscheidungen der vergangenen Jahre anstehen.
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) wird am Vormittag bei einem EU-Treffen sagen müssen, ob die Bundesregierung die geplanten Verschärfungen der Asylregeln unterstützt, und wird dies vermutlich nur tun können, wenn die Grünen als Koalitionspartner zustimmen. Sollte Faeser sich nicht positionieren können, dürfte bei einer möglichen Abstimmung nicht die erforderliche Mehrheit für die geplanten Regeländerungen zustande kommen. Kommt es zu einem folgenschweren Eklat? Fragen und Antworten im Überblick:
Was ist geplant?
Kern der aktuellen Reformvorschläge sind Maßnahmen, die zu einem deutlichen Rückgang des Zustroms von Menschen ohne Anrecht auf Schutz führen sollen. Wer aus einem Staat einreist, der als relativ sicher gilt, könnte künftig nach dem Grenzübertritt in eine streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtung kommen. Dort würde dann im Idealfall innerhalb von nur zwölf Wochen geprüft werden, ob der Antragsteller Chancen auf Asyl hat - wenn nicht, würde er umgehend zurückgeschickt werden.
Zudem soll die Überwachung und Abschiebung abgelehnter Asylsuchender erleichtert werden - zum Beispiel, in dem mehr Daten über sie gesammelt und zentral gespeichert werden.
Womit haben die Grünen ein Problem?
Die Partei stößt sich insbesondere daran, dass Familien mit Kindern von den sogenannten Grenzverfahren nicht ausgenommen werden sollen. Sie sieht deswegen das Risiko, dass auch Minderjährige möglicherweise mehrere Monate unter haftähnlichen Bedingungen leben müssen.
In den Vorverhandlungen zum heutigen Treffen versuchte die Bundesregierung, Grenzverfahren für Familien mit Kindern zu verhindern. Sie scheiterte allerdings, weil eine Mehrheit der EU-Staaten befürchtet, dass durch Ausnahmen der Abschreckungscharakter der Regelung eingeschränkt wird.
Könnten die Grünen in der Bundesregierung dennoch zustimmen?
Das ist denkbar, sie müssten sich dann aber auf größere parteiinterne Debatten vorbereiten. So warnte die Gruppe der deutschen Grünen im Europaparlament vor einem Kompromiss »um jeden Preis«. Die Pläne für sogenannte Grenzverfahren würden zu Lasten der Menschenrechte gehen und seien wirkungslos, sagte ihr Sprecher Rasmus Andresen den Zeitungen der Funke Mediengruppe.
Vor allem Kinder dürften nicht monatelang in Massenlagern festgehalten werden. Zuvor hatten bereits Hunderte Grünen-Mitglieder einen Brief an das eigene Spitzenpersonal geschrieben, in dem sie scharfe Kritik an den Reformplänen äußerten und vor der Zustimmung warnten.
Wie stehen die anderen Regierungsparteien zu der Reform?
Politiker von SPD und FDP haben die Grünen-Forderungen nach einer Ausnahme für Familien mit Kindern mitgetragen, wollen die Asylreform aber daran nicht scheitern lassen. Bundesinnenministerin Faeser warnte kurz vor dem EU-Treffen vor einem Scheitern der Verhandlungen. »Es ist wichtig, dass wir jetzt zu Ergebnissen kommen. Andernfalls ist mit mehr nationalstaatlicher Abschottung zu rechnen«, sagte die SPD-Politikerin vor dem Treffen in Luxemburg dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Die FDP appellierte zuletzt direkt an die Grünen, eine mögliche Einigung nicht zu blockieren. Die Chance für eine Reform diese Woche müsse unbedingt genutzt werden, sagte der innenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Konstantin Kuhle, der Mediengruppe Bayern. »Das Scheitern der Asylreform wäre eine schwere Hypothek für Deutschland und die gesamte Europäische Union.«
Ist die Bundesregierung der einzige Unsicherheitsfaktor?
Nein. Unklar ist auch, ob Italien geplante Regelungen für mehr Solidarität weit genug gehen. Die Asylreform ohne Unterstützung der Regierung in Rom auf den Weg zu bringen, gilt als wenig sinnvoll, da in dem Land derzeit die meisten Migranten ankommen und die EU darauf angewiesen ist, dass sich Italien dann an die neuen Regeln hält.
Nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats wurden in Italien in diesem Jahr bereits mehr als 50.000 Migranten registriert, die über das Mittelmeer kamen. Die meisten von ihnen kamen aus Tunesien, Ägypten und Bangladesch und hatten damit so gut wie keine Aussichten auf eine legale Bleibeperspektive.
Was sehen die Solidaritätsregeln vor?
Wenn Länder mit einem sehr großen Zustrom an Menschen konfrontiert sind, sollen sie die Unterstützung von anderen Mitgliedstaaten beantragen können. Eine bestimmte Anzahl an Schutzsuchenden würde dann über einen Verteilungsschlüssel in andere Länder kommen. Staaten, die sich daran nicht beteiligen wollen, müssten für jeden nicht aufgenommenen Menschen eine Kompensationszahlungen leisten. Im Gespräch waren zuletzt Summen um die 20.000 Euro pro Person.
Was steht auf dem Spiel?
Spätestens seit der Flüchtlingskrise 2015/2016 ist klar, dass die geltenden EU-Asylregeln überarbeitet werden müssen. Damals waren Länder wie Griechenland mit einem Massenzustrom an Menschen aus Ländern wie Syrien überfordert und Hunderttausende konnten unregistriert in andere EU-Staaten weiterziehen. Dies hätte eigentlich nicht passieren dürfen, denn nach der sogenannten Dublin-Verordnung sollen Asylbewerber da registriert werden, wo sie die Europäische Union zuerst betreten haben. Dieses Land ist in der Regel auch für den Asylantrag zuständig.
Würden weniger Asylsuchende nach Deutschland kommen?
Das ist noch schwer zu sagen. Deutschland müsste vermutlich über den Solidaritätsmechanismus Menschen aus den Außengrenzstaaten aufnehmen. Zugleich könnten viel weniger Menschen auf illegalem Weg kommen.
Was passiert, wenn heute kein Beschluss möglich ist?
Denkbar ist, dass dann in einigen Wochen noch einmal ein Sondertreffen der Innenminister organisiert wird. Voraussetzung für einen Beschluss zu den Plänen ist, dass 15 von 27 Mitgliedstaaten mit Ja stimmen, wobei diese zusammen mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen müssen.
Sollte der EU-Ministerrat bis zur Sommerpause keinen Beschluss fassen, dürfte es kaum noch eine Chance geben, das Reformprojekt in absehbarer Zeit über die Ziellinie zu bringen. Grund ist, dass es auch noch Verhandlungen mit dem Europaparlament darüber geben muss. Diese könnten Monate dauern - dann reicht möglicherweise die Zeit nicht mehr, das Projekt vor der Europawahl im Juni 2024 abzuschließen.
EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola sagte der »Welt« zu dem Treffen am Donnerstag: »Wir können uns nicht erlauben, Zeit zu verlieren, möglicherweise sogar Jahre.« Man brauche nun von allen EU-Ländern einen konstruktiven Ansatz und eine schnellstmögliche Entscheidung.
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