Seit den 1950er Jahren erinnert eine Gedenktafel am Bundesgerichtshof (BGH) an 34 Juristen, die nach Kriegsende in sowjetischen Internierungslagern starben - jetzt belegen wissenschaftliche Untersuchungen, dass die meisten stark in NS-Unrecht verstrickt waren.
Ein weiterer kleiner Teil der Reichsgerichtsräte und Reichsanwälte sei mittelmäßig bis wenig belastet gewesen, sagte der Mainzer Rechtshistoriker Andreas Roth am Montag bei einem Symposium zum Umgang mit der umstrittenen Tafel in Karlsruhe. Nur Einzelne seien gar nicht belastet gewesen.
Die marmorne Tafel ist in eine Wand im ersten Stock des historischen Hauptgebäudes eingelassen, des Erbgroßherzoglichen Palais. Darauf steht: »Zum Gedächtnis der 34 Mitglieder des Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft, die in den Jahren 1945 und 1946 in den Lagern Mühlberg an der Elbe und Buchenwald umgekommen sind«.
Bis 1945 hatte das oberste Zivil- und Strafgericht seinen Sitz in Leipzig. Dort waren fast 40 Juristen nach Ende des Zweiten Weltkriegs von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet und mehrheitlich in das bisherige Kriegsgefangenenlager Mühlburg gebracht worden, später auch ins frühere Konzentrationslager Buchenwald.
Einer der wahrscheinlich nur drei Überlebenden, der frühere Reichsgerichtsrat August Schaefer, hatte 1957 für die »Deutsche Richterzeitung« über »Das große Sterben« - so der Titel - geschrieben. Er schilderte harte Arbeitseinsätze und katastrophale hygienische Bedingungen, die 34 Mitinsassen nicht überlebten - ein Drittel aller Mitglieder des früheren Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft. »Ein schweres Schicksal, unverdient für das Gericht und für seine Mitglieder«, schrieb Schaefer.
Bei der Enthüllung der Tafel im Oktober 1957 sprach der erste BGH-Präsident Hermann Weinkauff von »unschuldigen Opfern« und »Märtyrern des Unrechts«. Mehr als 20 Jahre lang gab es einen blumengeschmückten, altarähnlichen Vorbau und ein Kondolenzbuch für die Hinterbliebenen und Besucher des Gerichtshofs.
Erst 1979 machte das Magazin »Stern« öffentlich, dass unter den 34 Reichsrichtern und -anwälten immerhin 23 treue NSDAP-Mitglieder gewesen seien, und sprach von einer »Gedenktafel für Nazi-Richter«.
Roth sagte, insbesondere bei den Strafrichtern seien mehr oder weniger alle, derer gedacht werde, in NS-Unrecht verstrickt gewesen. Sie hätten an Urteilen wegen »Rassenschande« und an Todesurteilen mitgewirkt. Bei den Zivilrichtern fiel Roths Bilanz etwas differenzierter aus. Hier gab es nach seinen Worten auch einzelne Senate, denen keine belastende Entscheidungen nachzuweisen seien.
Roths Forschungskollege, der Mainzer Historiker Michael Kißener, sagte, Ende der 1970er Jahre habe es am Bundesgerichtshof die erste echte Zäsur im Umgang mit der Tafel gegeben. Das eigentliche politische Problem sei aber nicht gelöst worden. Bis heute habe sich kein BGH-Präsident zum offenen Bruch entschließen können.
Im Erdgeschoss des Palais steht heute eine dreieckige Stele aus vergoldetem Messing als Mahnmal für die Opfer der NS-Justiz. Unmittelbar neben der Tafel hängt seit 2018 eine Plakette mit einer knappen Erläuterung und dem Verweis auf die in Auftrag gegebene Untersuchung. Seit etwa einem halben Jahr gibt es auch einen großen Aufsteller.
Kißeners und Roths Forschungen sind Teil einer umfangreichen Aufarbeitung von NS-Belastungen des BGH in den Jahren 1950 bis 1965. Dieses Projekt soll voraussichtlich 2024 abgeschlossen sein.
BGH-Präsidentin Bettina Limperg sagte, sie sei überzeugt, dass diese Einbettung in den größeren wissenschaftlichen Zusammenhang wichtig sei. »Manchen ging und geht das nicht schnell genug.« Es gebe aber eine Verantwortung denen gegenüber, die unter den Richtern gelitten oder ihretwegen sogar den Tod gefunden hätten. Sei es der richtige Weg, die Tafel zu zerstören oder sie herauszureißen und an einen anderen Ort zu bringen? Und wenn man sich am Ende dafür entscheide, was solle dann mit dem Loch in der Wand passieren? Sie wolle diese Fragen weder für sich allein noch im Stillen beantworten.
Das Symposium hatte eigentlich schon 2020 stattfinden sollten, musste wegen der Corona-Pandemie aber zweimal verschoben werden.
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