Logo
Aktuell Ausland

Flut nach Staudamm-Zerstörung - Westen beschuldigt Moskau

Wie der Einsatz einer Massenvernichtungswaffe - so beschreibt die Ukraine die neue Zerstörung. Weite Landstriche ertrinken im Wasser. Hemmt das die Kiewer Offensive zur Befreiung besetzter Gebiete?

Cherson
Rettungskräfte versuchen, Boote mit Bewohnern abzuschleppen. Foto: Felipe Dana
Rettungskräfte versuchen, Boote mit Bewohnern abzuschleppen.
Foto: Felipe Dana

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine haben sich Kiew und Moskau vor dem UN-Sicherheitsrat gegenseitig die Schuld zugewiesen. Der ukrainische UN-Botschafter Serhij Kislizia sprach bei einer kurzfristig einberufenen Dringlichkeitssitzung in New York von einem »Akt des ökologischen und technologischen Terrorismus«. Die Sprengung sei »ein weiteres Beispiel für den Völkermord Russlands an den Ukrainern.«

Der russische UN-Botschafter Wassili Nebensja sagte dagegen, dass der Vorfall auf »vorsätzliche Sabotage Kiews« zurückzuführen und wie ein Kriegsverbrechen einzuordnen sei. Der Staudamm sei für ein »unvorstellbares Verbrechen« benutzt worden.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist durch die Sprengung gefährlich eskaliert - mit noch unabsehbaren humanitären, ökologischen und militärischen Folgen. Auch der Westen macht Moskau verantwortlich. Präsident Wolodymyr Selenskyj verglich sie mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe. Durch die breite Bresche in der Mauer strömten Wassermassen aus dem Kachowka-Stausee ungehindert aus und setzten viele Ortschaften im flachen Süden der Ukraine unter Wasser. Informationen zu möglichen Verletzten gab es zunächst nicht.

»Das ist die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten«, sagte Selenskyj. Nach ukrainischen Angaben hatte nachts gegen 2.50 Uhr Ortszeit (1.50 Uhr MESZ) eine Explosion den 1955/56 gebauten Staudamm und ein angrenzendes Wasserkraftwerk zerstört.

Damit wuchsen auch erneut Sorgen um das Kernkraftwerk Saporischschja, das an dem Stausee liegt und von russischen Truppen besetzt ist. Für Europas größtes AKW bestehe aber keine unmittelbare Gefahr, teilte die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) mit. Das Kühlwasserbecken ist nach Kiewer Angaben getrennt vom Stausee.

Viele Orte unter Wasser

Der Kachowka-Stausee und der Fluss Dnipro bildeten seit dem vergangenen Herbst die Frontlinie im Gebiet Cherson. Das Südufer wird von russischen Truppen beherrscht, das nördliche Ufer mit der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson nach der Rückeroberung wieder von den Ukrainern. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal sprach von Überschwemmungsgefahr für bis zu 80 Ortschaften. Entlang des Nordufers sahen die ukrainischen Behörden 16.000 Menschen in Gefahr. Militärgouverneur Olexander Prokudin berichtete von zunächst acht Ortschaften, die ganz oder teilweise unter Wasser stehen. Angaben über Tote oder Verletzte gab es zunächst nicht.

Ersten Schätzungen zufolge rechnet das ukrainische Agrarministerium mit der Überschwemmung von etwa 10.000 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche am nördlichen Ufer des Dnipro in der Region Cherson. Am südlichen Ufer, im russisch besetzten Gebiet werde ein Vielfaches dieser Fläche überflutet, teilte das Ministerium auf seiner Webseite mit. Detaillierte Informationen sollen demnach in den kommenden Tagen bekannt gegeben werden, wenn sich das Ministerium ein genaues Bild von der Lage gemacht habe.

Faeser kündigt Hilfe an

Die Bundesregierung kündigte Hilfe an. Deutschland werde der Ukraine zur Seite stehen, um diese Katastrophe zu bewältigen, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Man wolle vor allem dabei helfen, evakuierte Menschen versorgen zu können.

»Das THW bereitet deshalb bereits jetzt mit Hochdruck deutsche Hilfslieferungen für die betroffene Region vor«, teilte die Ministerin mit. »Unsere Hilfslieferungen werden wir binnen kürzester Zeit auf den Weg bringen.« In einer Mitteilung des Technischen Hilfswerks hieß es, der ukrainische Katastrophenschutz (DSNS) werde mit der Lieferung von 5000 Wasserfiltern unterstützt. Die Filter stellten jeweils die Versorgung einer Familie mit sauberem Wasser sicher. Eine Spedition werde die Lieferung in die Ukraine fahren.

»Zivile Infrastruktur zu zerstören, Menschen die Lebensgrundlage zu nehmen, Land und Natur zu zerstören – all das zeigt erneut eine unfassbare Brutalität«, sagte Faeser.

In der Stadt Cherson leben die Menschen seit Monaten unter russischem Artilleriefeuer. Luftaufnahmen zeigten, dass dort im Stadtteil Korabel von vielen eingeschossigen Häusern nur noch das Dach aus dem Wasser ragte. Zur Lage am flachen Südufer in russischer Hand gab es kaum Informationen. In Nowa Kachowka dicht an der Staumauer berichtete die russische Verwaltung von Überschwemmungen.

Internationale Empörung über Moskau

In vielen Ländern sorgte die Katastrophe für Entsetzen und Empörung. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warf Moskau vor, in dem seit mehr als 15 Monaten dauernden Krieg immer stärker zivile Ziele anzugreifen. »Das ist ja auch etwas, das sich einreiht in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind«, sagte er. »Für diese menschengemachte Umweltkatastrophe gibt es nur einen Verantwortlichen: der verbrecherische Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine«, sagte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) auf einer Reise in Brasilien.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hielt Moskau vor, Tausende Zivilisten zu gefährden und schwere Umweltschäden in Kauf zu nehmen. »Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert.« EU-Ratspräsident Charles Michel zeigte sich schockiert über einen »beispiellosen Angriff«. Der britische Außenminister James Cleverly sprach von einem Kriegsverbrechen.

Vor dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen in Den Haag warf die Ukraine Russland Staatsterrorismus vor. Der Chef des Präsidentenbüros in Kiew, Andrij Jermak, forderte, Russland müsse seinen Sitz im UN-Sicherheitsrat verlieren. Dort gehört das Land zu den fünf Vetomächten.

Moskau und Kiew beschuldigen sich gegenseitig

Russland wies jegliche Schuld von sich. »Wir erklären offiziell, dass es sich hier eindeutig um eine vorsätzliche Sabotage der ukrainischen Seite handelt, die auf Befehl (...) des Kiewer Regimes geplant und ausgeführt wurde«, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Beweise legte er nicht vor. Präsident Wladimir Putin werde über alle Entwicklungen informiert, sagte er.

Selenskyj wies die Behauptung des Kremls zurück. »Russland kontrolliert den Kachowka-Damm mit dem Wasserkraftwerk seit über einem Jahr«, sagte er nach Angaben seines Präsidialamtes. Der Staudamm sei von russischen Soldaten vermint worden. »Und sie haben ihn gesprengt.« Vor diesem Szenario hatte die Ukraine gewarnt, seit die russischen Kräfte Cherson im Herbst 2022 geräumt hatten.

Verzögert sich die ukrainische Offensive?

Nach Darstellung Selenskyjs diente die Sprengung des Staudamms dazu, die ukrainische Gegenoffensive auszubremsen. Die Ukraine werde sich laut Selenskyj aber nicht an der Rückeroberung besetzter Gebiete hindern lassen.

»Die von russischen Terroristen verursachte Katastrophe im Wasserkraftwerk Kachowska wird die Ukraine und die Ukrainer nicht aufhalten«, sagte der Staatschef in seiner abendlichen Videobotschaft. »Wir werden trotzdem unser gesamtes Land befreien«, kündigte er an. Solche Attacken könnten Russlands Niederlage nicht verhindern, sondern führten nur dazu, dass Moskau am Ende einen höheren Schadenersatz zahlen müsse.

Zuvor hatte bereits Selenskyjs Stabschef Jermak dieselbe Vermutung geäußert. Auf Twitter schrieb er, durch die Sprengung nehme auch die Bewässerung für die Landwirtschaft im Süden der Ukraine Schaden.

In der Ukraine wird eine großangelegte eigene Offensive erwartet, deren Zeitplan und genaue Stoßrichtung nicht bekannt ist. Im Süden könnte die Flut den Unterlauf des Dnipro nahezu unpassierbar machen. Für die Russen verkürzt sich so die Front; sie könnten Kräfte an andere Abschnitte umlenken, an denen sie bedrängt sind.

Die ukrainischen Streitkräfte kündigten an, die Rückeroberung besetzter Gebiete trotzdem fortzusetzen. Die Ukraine verfüge über »alle notwendigen Boote und Pontonbrücken, um Wasserhindernisse zu überwinden«, teilte das Militär mit. Die Besatzer hätten den Staudamm »aus Angst vor der ukrainischen Armee« gesprengt.

© dpa-infocom, dpa:230606-99-954212/41