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Experten halten Grenzschließung durch Notlage für möglich

Kann Deutschland eine »Notlage« erklären, um gegebenenfalls EU-Recht auszuhebeln und Menschen an den Grenzen zurückzuweisen, wie CDU-Chef Merz vorschlägt? Experten schließen die Möglichkeit nicht aus.

CDU-Chef Friedrich Merz
CDU-Chef Merz präsentierte nach seinem Treffen mit Kanzler Scholz (SPD) einen ganzen Forderungskatalog zur Verschärfung der Migrationspolitik. (Archivbild) Foto: Kay Nietfeld/DPA
CDU-Chef Merz präsentierte nach seinem Treffen mit Kanzler Scholz (SPD) einen ganzen Forderungskatalog zur Verschärfung der Migrationspolitik. (Archivbild)
Foto: Kay Nietfeld/DPA

Nach der Terrorattacke von Solingen diskutieren Politik und Experten über die rechtlichen Möglichkeiten der von Unionsfraktionschef Friedrich Merz vorgeschlagenen Verschärfungen in der Migrationspolitik. Nach seinem Gespräch mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte der CDU-Vorsitzende unter anderem vorgeschlagen, Deutschland könnte eine nationale Notlage erklären, um Menschen an seinen Grenzen zurückweisen zu können, da die sogenannte Dublin-Regelung nicht mehr eingehalten wird. Rechtsexperten und Migrationsforscher schließen nicht aus, dass das geht. 

CDU: Dublin-System »zusammengebrochen und faktisch gescheitert«

Die Dublin-Regelung sieht vor, dass der Asylantrag in Europa in dem Land gestellt werden muss, das zuerst betreten wird. Streng ausgelegt würde das bedeuten, dass nur wenige Menschen, zum Beispiel diejenigen, die per Flugzeug anreisen, nach Deutschland kommen. Das System sei aber »zusammengebrochen und faktisch gescheitert«, heißt es in einem am Dienstag veröffentlichten Papier der CDU zu ihren migrationspolitischen Forderungen.

In seiner Pressekonferenz hatte Merz zuvor auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union verwiesen. Sollten Zurückweisungen an der deutschen Grenze aus europarechtlichen Gründen nicht möglich sein und dies auf europäischer Ebene nicht geklärt werden können, habe Deutschland das Recht eine nationale Notlage zu erklären. »Dann ist das nationale Recht der Bundesrepublik Deutschland wichtiger als das europäische Recht. Das geht nach dem EU-Vertrag« und müsse in Anspruch genommen werden.

Symbolbild - Grenzkontrolle auf der A12
Zurückweisungen an den Grenzen sind nach CDU-Auffassung umsetzbar, falls EU-rechtlich problematisch, dann durch Erklärung einer »nationalen Notlage«. (Archivbild) Foto: Patrick Pleul/DPA
Zurückweisungen an den Grenzen sind nach CDU-Auffassung umsetzbar, falls EU-rechtlich problematisch, dann durch Erklärung einer »nationalen Notlage«. (Archivbild)
Foto: Patrick Pleul/DPA

Der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht und Staatsrechtler Paul Kirchhof sagte »Bild«, Merz berufe sich wohl auf Artikel 78 des EU-Arbeitsvertrages. Dort wird die Möglichkeit von »vorläufigen Maßnahmen« für Mitgliedstaaten beschrieben, die sich »aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen« in einer Notlage befinden. 

Deutschland macht sein eigenes Ding?

»Das bedeutet, Deutschland würde sich selbst nicht mehr an das geltende EU-Recht halten, sondern sein eigenes Ding machen«, erklärte der Oldenburger Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler der Zeitung und sprach von einer drastischen, aber zumindest kurzfristig sinnvollen Maßnahme. Deutschland könne so die Flüchtlingszahlen begrenzen und gleichzeitig Druck innerhalb der EU ausüben, ein funktionierendes Verteilungssystem zu schaffen.

Der Europarechtler Daniel Thym von der Uni Konstanz verweist in einem Beitrag bei X auch auf Artikel 72 des EU-Arbeitsvertrages. Der sichert den EU-Mitgliedsstaaten die Zuständigkeit »für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit« zu. Eine Abweichung von EU-Regeln sei erlaubt, schreibt Thym, verweist aber auch auf den Europäischen Gerichtshof. Der Haken sei, dass bisher alle Versuche gescheitert seien. Das Prozessrisiko sei hoch.

CDU: EU-Recht steht unter Vorbehalt des Schutzes der inneren Sicherheit 

Im Papier der CDU heißt es, das europäische Recht biete die Möglichkeit für Zurückweisungen an Grenzen. Da dies zum Teil in Zweifel gezogen werde, fordere man seit langem eine Klarstellung im europäischen Recht. Die Christdemokraten argumentieren auch, dass sich die Sicherheitslage in Deutschland und Europa verschärft habe: »Und das EU-Asylrecht steht ausdrücklich unter dem Vorbehalt der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit«.

Merz wischt Gegenargumente beiseite

Neben der Erklärung einer Notlage fordert die CDU unter anderem auch Abschiebungen ausreisepflichtiger Syrer und Afghanen in ihre Heimatländer und einen Aufnahmestopp für Asylbewerber aus Syrien und Afghanistan. Dabei geht es ihr nach eigenen Angaben nicht um eine Änderung des Asylrechts im Grundgesetz. »Mit einer Praxis der konsequenten Zurückweisung an der Grenze von Personen ohne Einreiseerlaubnis würde es zu einem faktischen Aufnahmestopp von Asylbewerbern aus Syrien und Afghanistan kommen«, heißt es. Argumente, dass den CDU-Vorschlägen rechtliche Bestimmungen entgegenstehen könnten, wischte Merz bei seiner Pressekonferenz beiseite: Was alles nicht gehe, wolle die Bevölkerung nicht mehr hören.

Experte: »Niemand, der irregulär nach Deutschland kommt, ist schutzbedürftig«

Thym vermutet hinter der CDU-Strategie das Kalkül, dass eine deutsche Grenzschließung eine Kettenreaktion auslösen könnte, mit einem Signal der Abschottung und der Folge, dass irreguläre Migration kurzfristig zurückgeht, selbst wenn die grüne Grenze »nicht hermetisch dicht« gemacht werden könnte oder Gerichte nicht mitmachten. 

Der Leiter der Abteilung Migration am Wissenschaftszentrum Berlin, Ruud Koopmanns, schrieb bei X: »Niemand, der irregulär nach Deutschland kommt, ist schutzbedürftig. Alle waren in mehreren Ländern, in denen sie bereits sicher waren. Zugleich gibt es viele wohl Schutzbedürftige, die es niemals hierher schaffen. Diese Wahrheit sollte Grundlage für eine grundlegende Asylreform sein.«

Eine nationale Notlage mit Blick auf das Migrationsthema zu erklären, sei ein »versuchbarer Weg«, sagte er der dpa und verwies auf ähnliche Pläne im Nachbarland Niederlande, wo die neue Rechtsregierung an einem entsprechendem Vorstoß auf EU-Ebene arbeite. Dort würde etwa mit der Knappheit auf dem Wohnungsmarkt argumentiert.

© dpa-infocom, dpa:240828-930-215372/1