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EU-Forderungen befeuern Atomdebatte weiter

Deutschland bittet andere EU-Staaten um Solidarität beim Gassparen, will aber gleichzeitig an seinen Plänen für den Atomausstieg festhalten. In manch einem EU-Staat sorgt das für Unmut.

Kernkraftwerk Emsland
Die Bundesregierung will am Atomausstieg festhalten. Foto: Friso Gentsch
Die Bundesregierung will am Atomausstieg festhalten.
Foto: Friso Gentsch

Auf die Bundesregierung wächst der Druck, den Atomausstieg zu verschieben. Angesichts der Gaskrise dringen nach Recherchen der Deutschen Presse-Agentur nicht nur Parteien wie CDU und CSU, sondern auch mehrere EU-Staaten darauf, die verbliebenen drei Kernkraftwerke nicht wie geplant Ende des Jahres abzuschalten. Zudem wird gefordert, ein Wiederhochfahren der drei zuletzt vom Netz genommenen Meiler zu prüfen.

Aus Sicht von Ländern wie Ungarn, Rumänien, der Slowakei und Frankreich könnte ein Weiterbetrieb deutscher Atomkraftwerke erheblich dazu beitragen, Gas zu sparen, da in der Bundesrepublik zuletzt noch immer etwa 15 Prozent des Stroms von Gaskraftwerken erzeugt wurde. Sollte Russland seine Gaslieferungen in die EU komplett einstellen, wären dann mehr Reserven für das Heizen von Haushalten und für die Industrie verfügbar.

»Wenn Deutschland Gas sparen möchte, dann möge es doch bitte seine Atomkraftwerke weiterlaufen lassen - beziehungsweise die drei, die letztes Jahr abgeschaltet wurden, die könnten ja wieder ans Netz gehen«, kritisierte etwa der slowakische Wirtschaftsminister Richard Sulík am Dienstag am Rande von EU-Beratungen in Brüssel. Seinen Angaben zufolge könnten mit dem Weiterbetrieb der sechs AKW 15 Milliarden Kubikmeter Gas gespart werden. Dies sei die Hälfte der Menge, die die EU mit ihrem Gassparplan einsparen wolle, sagte er.

Ähnlich hatte sich kurz zuvor bereits der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban geäußert. Er kritisierte explizit die EU-Kommission dafür, Deutschland nicht zum Weiterbetrieb der AKW zu zwingen. Obwohl die Atomkraftwerke billige Energie produzierten, lasse die Brüsseler Behörde zu, dass diese geschlossen würden, sagte Orban am vergangenen Samstag. Wenn die Energie dann ausgehe, werde man stattdessen versuchen, Ungarn sein gespeichertes Gas wegzunehmen.

EU-Notfallplan für die Gaskrise

Orban spielte damit auf den am Dienstag gegen den Willen Ungarns beschlossenen EU-Notfallplan für die Gaskrise an. Er sieht vor, den nationalen Konsum im Zeitraum vom 1. August 2022 bis zum 31. März 2023 freiwillig um 15 Prozent zu senken. Zudem soll die Möglichkeit geschaffen werden, bei weitreichenden Versorgungsengpässen einen Unionsalarm auszulösen und verbindliche Einsparziele vorzugeben. Staaten, die kein Gas mehr haben, um zum Beispiel Haushalte zu versorgen, sollen dann von Ländern mit noch vorhandenen Vorräten versorgt werden.

In Deutschland sind derzeit noch drei Atomkraftwerke am Netz: Emsland in Niedersachsen, Isar 2 in Bayern und Neckarwestheim 2 in Baden-Württemberg. Nach geltendem Recht müssen sie eigentlich spätestens am 31. Dezember 2022 abgeschaltet werden.

In der Bundesregierung sind die Grünen strikt gegen eine weitreichende Laufzeitverlängerung. Als Option wird lediglich gesehen, die noch laufenden Atomkraftwerke mit den noch vorhandenen Brennelementen etwas länger zu betreiben. So könnte insbesondere das Atomkraftwerk Isar 2 vermutlich noch bis mindestens Mai nächsten Jahres laufen.

Eine Neuanschaffung von Brennelementen wird von den Grünen derzeit ausgeschlossen und auch ein Weiterbetrieb von Isar 2 soll nur möglich gemacht werden, wenn dies für die Absicherung der Stromnetzstabilität nützlich sein könnte.

Ampel-Koalition uneins

Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) betonte zuletzt immer wieder, dass eine volle Ausnutzung der noch vorhandenen Brennelemente in den drei AKW lediglich eine Reduzierung des deutschen Gasverbrauchs um bis zu 0,7 Prozent ermöglichen würde. SPD-Regierungspolitiker argumentieren ähnlich, wohingegen die FDP für eine Laufzeitverlängerung ist.

Die drei Atomkraftwerke, die nach Angaben von Experten in Deutschland wieder in Betrieb genommen werden könnten, sind die Kernkraftwerke Brokdorf (Schleswig-Holstein), Grohnde (Niedersachsen) und Gundremmingen C (Bayern).

Der Geschäftsführer des Tüv-Verbands, Joachim Bühler, sagte der »Bild«-Zeitung jüngst dazu, die Wiederinbetriebnahme der 2021 abgeschalteten Meiler wäre »keine Frage von Jahren, sondern eher von wenigen Monaten oder Wochen« - und vor allem eine Frage des politischen Willens. »Die drei Kraftwerke befinden sich nach unserer Überzeugung in einem sicherheitstechnischen Zustand, der es möglich machen würde, sie wieder ans Netz zu nehmen«, sagte Bühler.

Wegen dieser Einschätzung wird der Tüv seit Tagen von Umweltschützern scharf kritisiert. So bewertete zum Beispiel die Anwaltskanzlei des früheren Vorstandsmitglieds von Greenpeace International, Michael Günther, ein Sicherheitsgutachten des Tüv Süd für das bayerische Umweltministerium als »schlampig argumentierende Auftragsarbeit«.

Das Ministerium wies den Vorwurf zurück. »Der Tüv Süd ist einer der renommiertesten und mit Fragen der Kernkraft am besten vertrauten Experten«, sagte ein Sprecher. Es sei nicht ersichtlich, woher sich eine höhere Expertise einer Hamburger Rechtsanwaltskanzlei in der Kerntechnik ableite.

Die von Ungarns Ministerpräsident kritisierte EU-Kommission will sich unterdessen aus dem Streit um die deutschen Atomkraftwerke heraushalten. »Der Energiemix ist in der Zuständigkeit der EU-Mitgliedstaaten«, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen jüngst in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur. Sie beobachte aber, dass viele EU-Mitglieder davon ausgingen, dass die Atomkraft als Brückentechnologie gebraucht werde.

Belgien verschiebt Atomausstieg

So hat zum Beispiel die belgische Regierung bereits im März beschlossen, eine Verschiebung des eigentlich für Ende 2025 geplanten Atomausstiegs vorzubereiten. Er soll nun erst zehn Jahre später erfolgen.

In dem Interview machte von der Leyen zugleich deutlich, warum Deutschlands Bitte um Solidarität beim Gassparen wohl auch dann Gehör finden wird, wenn am Atomausstieg festgehalten wird. »Auch Mitgliedstaaten, die kaum russisches Gas beziehen, können sich den Folgen eines möglichen Lieferstopps in unserem Binnenmarkt nicht entziehen«, sagte sie. Die Volkswirtschaften seien eng miteinander verwoben. Eine Gaskrise beträfe in der einen oder anderen Form jeden Mitgliedstaat.

© dpa-infocom, dpa:220729-99-196392/10