Ein Wiederaufflammen heftiger Gefechte zwischen Israels Armee und der islamistischen Hamas im Norden des Gazastreifens überschattet die neu belebten Verhandlungen über die Freilassung von Geiseln und eine Waffenruhe. Israel geht in der verwüsteten Stadt Gaza erneut am Boden und aus der Luft gegen Kämpfer der Hamas vor. In den vergangenen Wochen kehrten die israelischen Streitkräfte wiederholt in Gebiete zurück, in die sie zuvor eingedrungen waren und aus denen sie sich wieder zurückgezogen hatten.
Dies zeige, wie der Kampf gegen die Hamas zu einem »langwierigen Zermürbungskrieg« werden könnte, schreibt das »Wall Street Journal«. Das erneute Vorgehen Israels in der Stadt Gaza könne dazu führen, dass die in Kairo wiederaufgenommen indirekten Verhandlungen über ein Geiselabkommen scheitern, erklärte die Hamas. Ihr Auslandschef Ismail Hanija habe die katarischen und ägyptischen Vermittler entsprechend gewarnt, hieß es. Die USA, die in dem Krieg ebenfalls als Vermittler fungieren, sehen dennoch Chancen für eine Einigung.
Es gebe noch Punkte, bei denen Israel und die Hamas weit auseinanderliegen würden, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus, John Kirby. »Aber wir hätten kein Team dorthin geschickt, wenn wir nicht glauben würden, dass wir hier eine Chance haben«, erklärte er mit Blick auf die Gespräche in Kairo. Am Mittwoch reise CIA-Direktor Bill Burns nach Doha weiter, um sich dort mit seinen Verhandlungspartnern aus Katar, Ägypten und Israel erneut zu treffen, meldete das US-Nachrichtenportal »Axios«.
Hamas: Netanjahu behindert Verhandlungsprozess
Der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu hatte zuvor als eine nicht verhandelbare Bedingung für ein Abkommen das Recht für Israel zur Fortsetzung der Kämpfe gegen die Hamas eingefordert. »Jedes Abkommen wird Israel erlauben, die Kämpfe wieder aufzunehmen, bis alle Kriegsziele erreicht sind«, heißt es in einer Liste an Bedingungen, die das Büro des israelischen Ministerpräsidenten veröffentlichte. Netanjahu lege »den Verhandlungen zusätzliche Hindernisse in den Weg«, heißt es in einer Erklärung der Hamas.
Auf beiden Seiten gebe es öffentliche Äußerungen, »die nicht unbedingt in vollem Umfang die Gespräche widerspiegeln, die wir mit ihnen oder ihren Gesprächspartnern unter vier Augen führen«, sagte dazu der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus, Kirby. Auf dem Tisch liegt ein Stufenplan. Die Vermittler bemühen sich derzeit um Formulierungen, um die Kluft in noch strittigen Punkten zu überbrücken. Netanjahus Auflistung an Bedingungen war in Vermittlungskreisen Medien zufolge auf Kritik gestoßen.
Luftangriffe gehen weiter
Unterdessen griff Israels Luftwaffe auch im mittleren Gazastreifen nach eigenen Angaben mehrere in einem Schulgebäude verschanzte Terroristen an. Wie Israels Militär mitteilte, sei die Gruppe aus Kämpfern der Hamas und des Islamischen Dschihad (PIJ) im Raum Nuseirat am Montagabend mit Präzisionsmunition beschossen worden, um zivile Opfer zu vermeiden. Nähere Details wurden nicht genannt. Die Angaben ließen sich unabhängig nicht prüfen.
Die israelische Armee wies einmal mehr darauf hin, dass die beiden Terrororganisationen »systematisch gegen das Völkerrecht« verstießen, »indem sie zivile Einrichtungen und die Bevölkerung als menschliche Schutzschilde für Terroranschläge gegen den Staat Israel missbrauchen«, hieß es. In Nuseirat hatte die Armee kürzlich nach eigenen Angaben Kämpfer der Hamas auch im Areal einer ehemaligen Schule des UN-Flüchtlingshilfswerks UNRWA ausgemacht und aus der Luft angegriffen. Laut Hamas wurden 16 Menschen getötet.
Auch dieses Objekt habe den Terroristen als Versteck und Einsatzbasis für Attacken auf das israelische Militär gedient, erklärte die Armee dazu. Und auch bei dem Angriff seien zuvor Schritte unternommen worden, um das Risiko für Zivilisten zu minimieren. Keine der Angaben - weder der israelischen Armee noch der Hamas - konnten unabhängig überprüft werden. Auslöser des Gaza-Krieges war das Massaker mit mehr als 1.200 Toten, das Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober 2023 in Israel verübt hatten.
Unterdessen erreichte Israels Armee die Zentrale des UN-Flüchtlingshilfswerks UNRWA in der Stadt Gaza. Die Streitkräfte hätten in dem Areal, das wegen des Krieges nicht in Betrieb ist, Anti-Terror-Einsätze eingeleitet, hieß es. Zivilisten seien zuvor zum Verlassen des Gebiets aufgefordert worden. Das Armee-Radio berichtete von Kämpfen mit Bewaffneten der Hamas. Nach palästinensischen Krankenhausangaben wurden mindestens 15 Menschen getötet. Die Zahl der Opfer könnte noch steigen, weil die Rettungskräfte wegen der Kämpfe viele Wohngebiete nicht erreichen können. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Wieder heftige Kämpfe in Gaza Stadt
In das Gebiet der Stadt Gaza waren die israelischen Truppen bereits im ersten Kriegsmonat eingedrungen. Laut einer Analyse von Satellitendaten, die kürzlich von Experten der City University of New York und der Oregon State University durchgeführt wurde, sind rund 75 Prozent der Gebäude in dem Gebiet beschädigt oder zerstört, berichtete das »Wall Street Journal«. Die Stadt ist von den massiven Verwüstungen in dem Krieg mit am schwersten betroffen. Inzwischen versucht die Hamas, sich dort und andernorts neu zu gruppieren.
Man müsse mangels einer politischen Strategie immer wieder an Orten kämpfen, die die Armee eigentlich zuvor eingenommen hatte, hatte bereits vor Wochen Israels Generalstabschef Herzi Halevi beklagt und laut Medienberichten vor einer »Sisyphusarbeit« gewarnt. Kritiker werfen Netanjahu vor, mangels eines genauen Plans zur Stabilisierung und Verwaltung Gazas zuzulassen, dass das abgeriegelte Küstengebiet im Chaos versinkt. Israels Truppen drohten, von der Hamas in einen endlosen Guerilla-Krieg verwickelt zu werden.
Israels Ministerpräsident Netanjahu hatte kürzlich in Aussicht gestellt, dass die letzten größeren Kampfverbände der Hamas im Süden des Gazastreifens bald zerschlagen seien. Damit könnte zumindest die großangelegte Bodenoffensive in dem Küstenstreifen enden. Das würde aber nicht unbedingt ein Ende des Militäreinsatzes bedeuten. Denn Netanjahu und hohe Militärs kündigten bereits mehrfach an, dass israelische Truppen auch nach der Phase der intensiven Kämpfe an strategischen Stellen im Gazastreifen bleiben würden.
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