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Erdogan wütet gegen Schweden - auch mit Blick auf Wiederwahl

Ein in Stockholm verbrannter Koran erzürnt den türkischen Präsidenten: Mit Unterstützung auf dem Weg in die Nato könne Schweden so nicht rechnen. Nutzt Erdogan die Situation für seine Wiederwahl aus?

Recep Tayyip Erdogan
Forderte zuletzt von Schweden die Auslieferung von 130 Personen, die er als Terroristen betrachtet: Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan. Foto: Turkish Presidency
Forderte zuletzt von Schweden die Auslieferung von 130 Personen, die er als Terroristen betrachtet: Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan.
Foto: Turkish Presidency

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat Schweden im Streit um die Nato-Norderweiterung vorerst die Tür vor der Nase zugeschlagen. »Wenn ihr der türkischen Republik oder dem religiösen Glauben der Muslime keinen Respekt zollt, dann könnt ihr von uns in Sachen Nato auch keine Unterstützung bekommen«, sagte Erdogan am Montagabend in Ankara. Medienberichten zufolge wurde ein für Februar geplantes Treffen mit Vertretern Schwedens und Finnlands vorerst abgesagt.

Grund für seine Empörung war die Kundgebung eines islamfeindlichen Provokateurs in Stockholm, bei der ein Koran verbrannt wurde. Dabei nützte es auch nichts, dass sich Schwedens Regierung schnell von der fragwürdigen Aktion distanzierte. Doch hinter Erdogans Ärger vermuten Experten auch eine Strategie.

Schweden und Finnland haben sich vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine nach langer Zeit der Bündnisfreiheit in diesem Jahr dazu entschlossen, Nato-Mitglieder werden zu wollen. Das Mitglied Türkei blockiert ihre Aufnahme jedoch seit Monaten. Ankara reibt sich dabei vor allem an Schweden, dem es unter anderem Unterstützung von »Terrororganisationen« wie der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vorwirft. Erdogan forderte zuletzt auch die Auslieferung von 130 Personen, die er als Terroristen betrachtet.

Die Koran-Verbrennung ist der zweite Vorfall seit Jahresbeginn, der Ankara erzürnt: Eine im Zentrum von Stockholm aufgehängte, Erdogan ähnelnde Puppe hatte erst vor anderthalb Wochen zu neuem Ärger sowie der Ausladung schwedischer Politiker von Seiten Ankaras geführt.

Das große Problem bleibt die Türkei

Für Schweden und indirekt auch für Finnland ist das türkische Veto ein handfestes Problem: Alle 30 Nato-Mitglieder müssen ihre Aufnahmeanträge ratifizieren, 28 haben das bereits getan - nur die Türkei und Ungarn noch nicht. Finnlands Außenminister Pekka Haavisto bekräftigte, dass Ungarn keine Bedingungen für seine Ratifizierung gestellt habe und er mit dieser nach wie vor im Februar rechne. Das große Problem dürfte somit die Türkei bleiben - und das hat auch mit dem Datum 14. Mai zu tun.

Dann nämlich finden in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Erdogan, seit gut 20 Jahren der starke Mann in Ankara, will sich dabei erneut wählen lassen. Umfragen versprechen ihm derzeit aber keinen klaren Wahlerfolg - und da könnte dem 68 Jahre alten Staatschef der Nato-Streit gelegen kommen. Beobachter unterstellen Erdogan seit längerem, die Geschehnisse auch für innenpolitische Zwecke zu nutzen. Außenpolitische Krisen lassen das religiös-nationalistische türkische Lager allgemein zusammenrücken. Es sind mögliche Stimmen, die der Präsident bitter nötig hat.

Nun hat Erdogan die Tür für die Schweden vorerst zugeschlagen, sie dabei aber nicht unbedingt endgültig verschlossen. Er ist bekannt dafür, sich international in den Weg zu stellen, dann aber zu gegebenem Zeitpunkt und nach Zugeständnissen der Verhandlungspartner doch einzulenken. Nicht nur im hohen Norden Europas wird deshalb vermutet, dass Erdogan den Nato-Streit bewusst in den türkischen Wahlkampf trägt, sich damit die Wiederwahl zu sichern versucht und dann doch grünes Licht für die Nato-Norderweiterung gibt. Als geeigneter Zeitpunkt wird dafür etwa der Nato-Gipfel Mitte Juli in Vilnius betrachtet - zwei Monate nach der Wahl in der Türkei.

Finnland öffnet sich für mögliche Nato-Mitgliedschaft ohne Schweden

Bis dahin versuchen die Schweden und Finnen, trotz aller Unannehmlichkeiten weiter Ruhe zu bewahren. Der schwedische Außenminister Tobias Billström erklärte, vor einer Reaktion auf Erdogans Aussagen genauer verstehen zu wollen, was gesagt worden sei. Die schwedische Botschaft in Ankara blieb derweil am Dienstag wegen erwarteter Demonstrationen vor dem Gebäude geschlossen.

Billströms finnischer Amtskollege Haavisto stieß erstmals die Tür dazu auf, dass sein Land unter Umständen dazu gezwungen sein könnte, einen Nato-Beitritt ohne seinen langjährigen Verbündeten Schweden in Betracht zu ziehen. Man müsse bereit sein, die Situation neu zu bewerten, wenn sich herausstelle, dass der schwedische Antrag langfristig festhänge, sagte er dem finnischen Rundfunk.

Später beteuerte er aber vor finnischen Reportern, Finnlands Linie habe sich nicht verändert: Trotz aller Hindernisse setze man die gemeinsame Nato-Reise mit Schweden fort und wolle nach wie vor zeitgleich Mitglied werden. Einen Plan B, so Haavisto, gebe es nicht.

Müssen Schweden und Finnland nun also monatelang nach Erdogans Pfeife tanzen, nachdem sie ihm bereits in mehreren Punkten entgegengekommen sind? Mitnichten. Dank Sicherheitsgarantien anderer Nato-Verbündeter sind sie nicht gezwungen, voreilig zu agieren. Vielmehr können die Nordlichter etwas Druck aus der aufgeheizten Lage nehmen. Das verschafft ihnen auch einen Hebel: Sollten sie sich entschließen, die Verhandlungen mit Ankara bis nach den Wahlen in der Türkei auf Eis zu legen, dann könnte Erdogan damit wichtiges Pulver für den Wahlkampf verlieren. Die stärkste türkische Oppositionspartei hat bereits deutlich gemacht, sich einer Nato-Norderweiterung unter keinen Umständen in den Weg zu stellen.

Haavisto sprach am Dienstag von der Möglichkeit, eine Pause bei den finnisch-schwedisch-türkischen Gesprächen einzulegen. Ein nächstes Treffen werde sich vermutlich um Wochen verzögern. Der finnische Präsident Sauli Niinistö sagte derweil laut Yle bei einem Besuch in Kiew, man müsse in Sachen Nato-Prozess am Ball bleiben - und nun zunächst auf die Wahlergebnisse in der Türkei warten.

© dpa-infocom, dpa:230124-99-333564/5