Gut ein Jahr nach seiner sogenannten Zeitenwende-Rede wird Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) morgen im Bundestag die Konsequenzen aus dem russischen Angriff auf die Ukraine bilanzieren.
Es wird darum gehen, was er aus dem angekündigten Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr gemacht hat und wie er die Modernisierung der Streitkräfte weiter vorantreiben will. Es dürfte aber auch zur Sprache kommen, was der Tabubruch vom Februar 2022 bewirkt hat, erstmals deutsche Waffen für den Abwehrkampf gegen eine Atommacht in ein Kriegsgebiet zu schicken. Wo steht Deutschland heute bei der militärischen Unterstützung der Ukraine: an der Spitze der Bewegung oder nur im Geleitzug?
Was hat Deutschland inzwischen alles geliefert?
Mit den Schutzhelmen fing alles an. Ende Januar 2022 - einen Monat vor Kriegsbeginn - sagte die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) der Ukraine 5000 solche Helme zu und sprach von einem »ganz deutlichen Signal« an das von Russland bedrohte Land: »Wir stehen an eurer Seite.« Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk forderte schon damals, als sich Zehntausende russische Soldaten an der ukrainischen Grenze für den Angriff formierten, Luftabwehrsysteme und Kriegsschiffe. Die ersten Waffen sagte die Bundesregierung aber erst zwei Tage nach der Invasion zu. Zuerst waren es Panzerfäuste und Stinger-Raketen. Dann wurde die Qualität Schritt für Schritt gesteigert bis hin zu Schützen- und Kampfpanzern.
Welchen Wert haben die Waffen?
Bis zum 20. Februar hat die Bundesregierung nach ihrer eigenen Statistik die Lieferung von Waffen und militärischer Ausrüstung im Wert von 2,556 Milliarden Euro genehmigt. Dabei setzt das Verteidigungsministerium für Abgaben aus Beständen der Bundeswehr einen Zeitwert an, der Abschreibungen berücksichtigt. Bei Verkäufen der Industrie werden die Vertragssummen genommen. Auch Ausbildungskosten kommen in die Gesamtrechnung. Ein großer Teil der Waffen ist schon geliefert. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sagte im Januar bei einer Konferenz der Ukraine-Verbündeten auf dem rheinland-pfälzischen US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein zu, diesen Wert noch im Frühjahr auf 3,3 Milliarden Euro steigern zu wollen. Darin sind die 18 Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 noch nicht berücksichtigt, die erst später versprochen wurden.
Wie steht Deutschland damit im internationalen Vergleich da?
Der Geldwert der Militärhilfe wird von einzelnen Staaten unterschiedlich berechnet, und die Systematik - ob Zeitwert oder Neuwert - wird in der Regel nicht vollständig offengelegt. Die USA sind aber unbestritten der mit Abstand größte Waffenlieferant der Ukraine. Sie haben nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums seit Beginn des russischen Angriffskriegs Militärhilfe im Umfang von mehr als 32 Milliarden US-Dollar (30,2 Milliarden Euro) geleistet. Im Vergleich zu Deutschland ist das mehr als das Zehnfache. Dahinter folgen Großbritannien und Deutschland fast gleichauf. Großbritannien gibt seine Militärhilfe mit 2,6 Milliarden Euro alleine für das vergangene Jahr an und will in diesem Jahr noch einmal so viel ausgeben. Knapp hinter Deutschland liegt Polen. Das Verteidigungsministerium in Warschau schätzt die militärische Unterstützung für die Ukraine auf seiner Internetseite auf bisher »mehr als 2,2 Milliarden Euro«.
Wie sieht es aus, wenn man die Hilfe an der Wirtschaftskraft misst?
Da liegt Deutschland unter den Nato-Staaten dann nur noch im Mittelfeld. Nach einer aktuellen Statistik des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW) gibt Deutschland 0,06 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für militärische Hilfe aus. Das bedeutet Platz 18 unter den 30 transatlantischen Verbündeten. An der Spitze liegen die drei baltischen Staaten und Polen, die alle an Russland grenzen: Estland kommt auf 1,05 Prozent des BIP, Lettland auf 0,92 Prozent und Litauen auf 0,52 Prozent, Polen liegt mit 0,43 Prozent knapp dahinter. Mit Italien (0,04), Frankreich (0,03) und Spanien (0,007) stehen allerdings die nach Deutschland bevölkerungsreichsten Länder der EU in dieser Rangliste noch weiter unten.
Inwieweit hat Deutschland die Forderungen der Ukraine erfüllt?
Die ukrainische Botschaft hat bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn - am 1. März 2022 - eine lange Wunschliste an das Kanzleramt, das Verteidigungsministerium und das Auswärtige Amt geschickt, auf der insgesamt 30 Waffensysteme und militärische Geräte aufgeführt sind, die für den Abwehrkampf gegen Russland gebraucht würden. Die Hälfte davon hat Deutschland geliefert, darunter Kampf-, Schützen-, Berge- und Brückenpanzer, gepanzerte Transportfahrzeuge, Panzerhaubitzen und Mehrfachraketenwerfer, Aufklärungsdrohnen und Flugabwehrsysteme.
Welche Wünsche sind noch offen?
Eine ganze Reihe Wünsche von der Liste sind aber noch offen. Zum Beispiel forderte die Ukraine schon damals Fregatten, Korvetten, U-Boote, Kampfhubschrauber und Kampfjets. Die Debatte über Kampfjets ist seit dem Ja zu den Kampfpanzern in vollem Gange. Mehrere Nato-Staaten haben sich offen gezeigt. Die Bundesregierung will davon aber noch nichts wissen. Die Sprachregelung zu diesem Thema lautet: »Die Debatte macht keinen Sinn« (Zitat Scholz).
Nach welchen Kriterien entscheidet Scholz?
Der Kanzler hat drei Prinzipien für seine Entscheidungen über Waffenlieferungen aufgestellt: Entschlossene Unterstützung der Ukraine, enge Abstimmung mit den Bündnispartnern, keine Verwicklung der Nato in den Krieg. Scholz wird vorgeworfen, sich bei der Abwägung teils sehr viel Zeit gelassenen zu haben. So begann die Diskussion über die Lieferung von Kampfpanzern westlicher Bauart schon im Frühjahr 2022. Die ersten Leopard-2-Panzer werden die Ukraine nun aber frühestens Ende März erreichen.
Liefert Deutschland nur im Geleitzug der Amerikaner?
Dass Scholz Alleingänge ablehnt bedeutet vor allem: Er will nichts ohne den größten Bündnispartner USA tun. Das heißt aber nicht, dass er immer nur macht, was die Amerikaner wollen. Bei den Kampfpanzern war es am Ende umgekehrt. Nur auf Drängen Deutschlands sagten die USA die Lieferung von Abrams-Panzern zu.
Was haben deutsche Waffen auf dem Schlachtfeld bewirkt?
Konkretere Angaben gibt es für das Flugabwehrsystem Iris-T sowie den Flugabwehrkanonenpanzer Gepard, die ihre Wirkung gegen russische Angriffe vielfach unter Beweis gestellt haben. Dagegen macht die ukrainische Militärführung aus den genauen Einsatzorten weiter reichender Artilleriesysteme wie der Panzerhaubitze 2000 ein Geheimnis - aus guten Gründen. Das schnelle und treffgenaue Artilleriesystem soll bei der Rückeroberung von Charkiw gefeuert haben und auch in den laufenden Kämpfen um Bachmut eingesetzt worden sein. Sicher ist nach dem Verschleiß an den Waffen: Sie wurden intensiv eingesetzt.
Sind auch deutsche Waffen in die Hände der russischen Armee gelangt oder von ihr zerstört worden?
Es gibt nach Angaben aus deutschen Regierungskreisen keine Hinweise darauf, dass Russland ein großes Waffensystem zerstört oder erbeutet hat.
Steht die Bevölkerung hinter Scholz' Kurs bei den Waffenlieferungen?
Sie ist bei dem Thema gespalten. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur vertraten Mitte Februar 40 Prozent der Befragten die Auffassung, es seien zu viele Waffen aus Deutschland an die Ukraine geliefert worden. Nur 22 Prozent hielten die militärische Unterstützung für zu gering, 23 Prozent fanden sie genau richtig. Auch mit Blick auf die Leopard-2-Kampfpanzer sind die Menschen in Deutschland geteilter Meinung. 44 Prozent halten die Lieferung für falsch und 41 Prozent finden sie richtig.
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