Die Opposition im Bundestag hat der Ampel-Koalition ein Jahr nach deren Amtsantritt ein durchwachsenes bis schwaches Zeugnis ausgestellt. CDU-Chef Friedrich Merz attestierte Kanzler Olaf Scholz (SPD) Führungsschwäche. Linke-Parteichefin Janine Wissler beklagte, dass Armut zugenommen habe. Politiker der Koalition räumten zwar Reibungen im Bündnis ein, verwiesen aber auch auf Erreichtes.
Die Regierung aus SPD, Grünen und FDP hatte vor einem Jahr unter dem Motto »Mehr Fortschritt wagen« ihre Arbeit aufgenommen, Olaf Scholz (SPD) hatte am 8. Dezember seinen Amtseid als Kanzler geleistet.
Der Unionsfraktionschef im Bundestag, Merz, warf Kanzler Scholz vor, Chancen verpasst zu haben. »Der Bundeskanzler hätte durch die von ihm selbst so bezeichnete Zeitenwende eine große Chance gehabt, in unserem Land sehr viel mehr zu erreichen. Diese Gelegenheit hat er nicht genutzt«, sagte Merz der »Rheinischen Post« (Dienstag). »Andere Bundeskanzler vor Scholz waren mutiger und zupackender. Selbst Gerhard Schröder. Ich erinnere nur an seine Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010.«
»Wir werden nach wie vor unter Wert regiert. Die Koalition streitet zu viel und verwendet zu wenig Zeit darauf, in der Wirtschafts- und Energiepolitik eine Wende zum Besseren hinzubekommen«, meinte Merz. In der Schule würde man sagen, die Regierung habe »sich redlich bemüht«. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hatte der Ampel zuletzt »eine glatte 5« attestiert. Laut Merz ist die größte Schwäche der Regierung »zurzeit die Wirtschaftspolitik«.
Linke: Zu viel Armut
Die Linke-Vorsitzende Wissler beklagte am Dienstag im ARD-»Morgenmagazin«, unter der Ampel-Regierung habe Armut zugenommen, Entlastungen kämen zu spät und seien zu ungenau, Fragen der Gerechtigkeit kämen zu kurz. Das Bürgergeld als Nachfolger von Hartz IV nannte Wissler »vermurkst«. Auch gebe es Defizite im Klimaschutz und in der Wohnungspolitik. Als richtige Maßnahme wertete sie die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde.
Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang sagte am Montagabend in der RTL-Sendung »beisenherz«: »Wir haben vieles geschafft, aber oft ruckelnder als wir uns das wünschten.« Sie verwies aber auch auf Erfolge. »Wenn man sich am Ende mal anschaut, was wir eigentlich hinbekommen haben, wie wir in diesen Winter gehen - gefüllte Gasspeicher, soziale Entlastungen, wie sie dieses Land in dieser Form noch niemals gesehen hat und der Ausbau der erneuerbaren Energien als Weg, wie wir künftig unabhängig werden von autoritären Regimen - dann haben wir verdammt viel geschafft in wirklich schwierigen Zeiten.« Lang gab der Koalition für ihr erstes Jahr die Note 2 bis 3.
FDP-Vize Johannes Vogel verwies auf die »außerordentliche Krise«, mit der die Ampel-Koalition durch den russischen Angriff auf die Ukraine kurz nach Amtsantritt konfrontiert war. Man habe eine industrielle Kernschmelze verhindern können und auch, dass die Menschen frieren müssen. Das sei keine Selbstverständlichkeit gewesen. Vogel, der auch Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion ist, räumte zugleich ein, dass die Ampel-Koalition noch effektiver werden kann. »Diese Koalition kann schneller und besser werden«, sagte Vogel im ARD-»Morgenmagazin«.
Ampel: Viele Weichen in Richtung Fortschritt gestellt
Anspruch der Koalition im kommenden Jahr müsse sein, neben dem akuten Krisenmanagement absehbare Herausforderungen anzugehen, betonte Vogel. Er nannte etwa eine bessere Ausrüstung der Bundeswehr und eine Reform des Rentensystems. Vogel warb auch dafür, nicht jede Debatte als Koalitionsstreit zu sehen. »Nicht jede Diskussion ist gleich Streit, und übrigens nicht jeder Kompromiss auch Verrat.«
In einem gemeinsamen Gastbeitrag in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« meldeten sich die Chefs der drei Parteien der Ampelkoalition zu Wort. Nach den ersten kalten Wochen dieses Winters zeige sich, »dass wir mit vollen Gasspeichern und gut vorbereitet in die kommenden Monate gehen«, bilanzierten die Vorsitzenden von SPD, FDP und Grünen, Saskia Esken, Lars Klingbeil, Christian Lindner, Ricarda Lang und Omid Nouripour. Die Koalition habe viele Weichen in Richtung Fortschritt gestellt und bringe auch gesellschaftspolitisch »unsere Gesetze auf die Höhe der Zeit«. Nach vorn blickend schrieben die fünf Parteichefs: Wenn Fortschritt in der Gesellschaft angenommen werden solle, dann müssten »dafür Brücken gebaut und lagerübergreifende Perspektiven eingebunden werden«.
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