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Dutzende ukrainische Kriegsgefangene getötet

Mariupol, Kramatorsk, Butscha - diese Orte stehen für Tote und massenhaftes Leid in Russlands Krieg gegen die Ukraine. Jetzt kommt das Dorf Oleniwka dazu mit einem Lager voller wehrloser Gefangener.

Ukraine-Krieg - Oleniwka
Ein Soldat steht Wache neben der Mauer eines Gefängnisses in Oleniwka. Foto: AP
Ein Soldat steht Wache neben der Mauer eines Gefängnisses in Oleniwka.
Foto: AP

Dutzende ukrainischer Kriegsgefangener sollen bei einem Angriff auf ein Gefängnis unter Kontrolle der prorussischen Separatisten in der Ostukraine getötet worden sein.

Die russische und die ukrainische Seite machen sich gegenseitig für den Tod der Gefangenen in dem Ort Oleniwka bei Donezk verantwortlich. Russland sprach von einem Raketenbeschuss, die Ukraine verbreitete unterschiedliche Darstellungen zu dem Geschehen.

Bis zum Nachmittag stieg nach Angaben der Separatisten die Zahl der Toten auf 53, weitere 75 Menschen seien verletzt worden. In dem Gefängnis sollen die von Moskau kontrollierten Separatisten viele ukrainische Soldaten gefangen halten, die sich nach der monatelangen Verteidigung der Hafenstadt Mariupol ergeben hatten. Dazu zählten auch Soldaten des nationalistischen Regiments Asow.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj besuchte am 156. Tag des Kriegs die Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer. Er kündigte an, dass ein erstes Schiff mit ukrainischem Getreide noch am Freitag oder Samstag in See stechen solle. Auf Telegram veröffentlichte er ein Video, das zeigte, wie das Schiff »Polarnet« unter türkischer Flagge im Hafen Tschornomorsk bei Odessa beladen wurde. Der Export über das Schwarze Meer soll von den Vereinten Nationen und der Türkei unter Mitwirkung Russlands und der Ukraine beaufsichtigt werden.

Bemühungen zur Befreiung von US-Staatsbürgern in Russland

US-Außenminister Antony Blinken sprach erstmals seit Beginn des Kriegs mit seinem russischen Amtskollegen. Es habe ein »offenes und direktes Gespräch« mit Außenminister Sergej Lawrow über ein Angebot zur Freilassung der US-Basketballerin Brittney Griner und des amerikanischen Staatsbürgers Paul Whelan gegeben. »Ich habe den Kreml gedrängt, den substanziellen Vorschlag zu akzeptieren, den wir (...) gemacht haben«, sagte Blinken. Die US-Regierung hatte am Mittwoch bekanntgeben, Russland ein Angebot zur Freilassung der beiden gemacht zu haben. Details zu dem Vorschlag gab sie aber nicht bekannt.

Lawrow sprach sich bei dem Telefonat für eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Moskau und Washington aus, wie das russische Außenministerium mitteilte. Lawrow beklagte demnach, dass die vom Westen an die Ukraine gelieferten Waffen gegen die friedliche Bevölkerung gerichtet würden. Was den möglichen Austausch von russischen und US-amerikanischen Gefangenen angehe, sei der Übergang zu einem professionellen Dialog der »ruhigen Diplomatie« ohne Spekulationen vorgeschlagen worden, hieß es weiter.

Blinken wiederum betonte seinem Ministerium zufolge, dass die USA russische Pläne, weitere Gebiete der Ukraine zu annektieren, nicht akzeptieren würden. »Die Welt wird Annexionen nicht anerkennen. Wir werden Russland weitere erhebliche Kosten auferlegen, wenn es mit seinen Plänen fortfährt«, so Blinken.

Wechselseitige Vorwürfe nach Zerstörung von Gefangenenlager

Die Berichte über die toten ukrainischen Kriegsgefangenen in Oleniwka waren kaum zu verifizieren. Bilder und Videos russischer Quellen zeigten Tote, dazu einen Schlafsaal voller Stockbetten unter einem zerstörten Dach. Der ukrainische Generalstab dementierte, dass seine Truppen das Gefängnis beschossen hätten. Die ukrainische Armee bombardiere keine zivilen Objekte und »schon gar nicht Plätze, an denen wahrscheinlich gefangene Waffenbrüder festgehalten« werden.

Selenskyjs Berater Michajlo Podoljak sprach von einer »klassischen, zynischen und sehr durchdachten Operation unter falscher Flagge«. Das Portal Ukrajinska Prawda zitierte angebliche Quellen im ukrainischen Militärgeheimdienst, nach denen russische Kräfte nachts das Gebäude in dem Lager zerstört hätten.

Während der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba auf Twitter von einem Beschuss durch Russland sprach, sprachen die ukrainischen Geheimdienste von einer gezielten Sprengung durch russische Kräfte. »Die Explosionen ereigneten sich in einem neu errichteten Gebäude, das speziell für die Gefangenen aus Azovstal hergerichtet wurde«, behauptete der ukrainische Militärgeheimdienst. Azovstal ist das Stahlwerk in Mariupol, in dem sich die ukrainischen Soldaten verschanzt hatten. Hinter der Sprengung soll angeblich die russische Söldnertruppe Wagner stecken, so der Geheimdienst.

Das russische Verteidigungsministerium erklärte, die Baracke sei von Raketenwerfern des Typs Himars beschossen wurden. Die USA haben diese Mehrfachraketenwerfer erst vor einigen Wochen an Kiew geliefert. Mit den hochmodernen Waffen haben die Ukrainer seitdem viele Munitionsdepots und Kommandopunkte der Russen weit hinter der Front zerstört. Die sogenannte Volksrepublik Donezk will die Ukrainer vor Gericht stellen und droht mit der Todesstrafe. »Es ist offensichtlich ein bewusster Beschuss und der Wunsch, diejenigen Vertreter, darunter des Asow-Regiments, zu vernichten, die angefangen haben, Geständnisse abzulegen«, behauptete Separatistenführer Denis Puschilin.

Hoffnung auf erste ukrainische Getreideexporte

»Das Wichtigste für uns ist, dass der Hafen und die Menschen arbeiten«, sagte Selenskyj in Odessa. Das Getreide auf der »Polarnet« stamme von einer ukrainischen Firma. Das Infrastrukturministerium warte nun auf ein Signal von den Vereinten Nationen und der Türkei für den Start. »Für uns ist wichtig, dass die Ukraine ein Garant der weltweiten Lebensmittelsicherheit bleibt«, betonte Selenskyj.

Nach Angaben der Präsidialverwaltung werden derzeit insgesamt 16 Schiffe in den Häfen in und um Odessa mit Getreide beladen. Die Ukraine ist einer der weltgrößten Exporteure von Getreide. Nach Beginn des Kriegs hatte Russland die ukrainischen Seehäfen aber blockiert. Die Ukraine verminte ihre Küste zudem zum Schutz vor russischen Angriffen. Unter Vermittlung der UN und der Türkei hatten die beiden Kriegsparteien in Istanbul vor einer Woche Abkommen zur Freigabe der Getreideexporte unterzeichnet.

Viele Tote durch russischen Beschuss auf ukrainische Städte

In den Kriegsgebieten sind nach Angaben ukrainischer Behörden binnen zwei Tagen mehr als ein Dutzend Zivilisten getötet und zahlreiche Menschen verletzt worden. Am Donnerstag seien acht Menschen getötet und 19 verletzt worden, teilte der Militärgouverneur des ostukrainischen Gebiets Donezk, Pawlo Kyrylenko, mit. Am Freitag kamen demnach mindestens zwei Tote und sechs Verletzte hinzu.

In der östlichen Stadt Charkiw schlugen mehrere Raketen ein. Dabei seien zwei Menschen getötet und acht verletzt worden. In Mykolajiw im Süden wurde den Angaben zufolge eine Bushaltestelle getroffen. Dort starben fünf Menschen, sieben wurden verletzt. Auch in dem von russischen Truppen besetzten Teil des Gebiets Donezk gerieten Zivilisten unter Beschuss. Örtliche Medien sprachen von einem Toten und mindestens 28 Verletzten. Die Angaben zu den Opferzahlen ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

Russische Söldner der sogenannten Wagner-Gruppe kämpfen in der Ukraine nach britischer Geheimdienst-Einschätzung in enger Abstimmung mit regulären russischen Einheiten. Den Kämpfern sei vermutlich die Verantwortung für eigene Frontabschnitte übergeben worden, wie sie sonst normale Armee-Einheiten übernehmen, teilte das Verteidigungsministerium in London mit. Die russische Armee versuche damit, ihren Mangel an Infanterie auszugleichen.

© dpa-infocom, dpa:220729-99-196560/16