Der russische Regierungskritiker und frühere Schachweltmeister Garri Kasparow (60) glaubt bei dem Drohnen-Vorfall auf dem Kreml-Gelände in Moskau nicht an eine russische Inszenierung. »Die verbreitete Version, dass es eine Provokation des KGB war, bezweifle ich. Ich habe keine Probleme damit, mir vorzustellen, dass der KGB Fake-Events kreiert, um die Wut der Bevölkerung zu wecken, aber das ist das falsche Ziel«, sagte er im Interview der Deutschen Presse-Agentur in Gmund am Tegernsee.
Der KGB war der sowjetische Geheimdienst, aus dem der heutige Inlandsgeheimdienst FSB und der Auslandsdienst SWR hervorgingen. »Vor dem Hintergrund des Krieges wird eine Attacke auf den Kreml Putin von den Russen als Schwäche ausgelegt«, sagte Kasparow.
Er habe zwar auch nur die Informationen, die er aus den Medien erfahre, und könne sich irren, glaube bei dem Vorfall am russischen Machtzentrum aber eher an eine »Nachricht aus der Ukraine: Pass auf, wir können Euch erreichen«. Russland hatte erklärt, in der Nacht zu Mittwoch seien zwei Drohnen zum Absturz gebracht worden, die auf das Kreml-Gelände zugeflogen seien. Moskau wirft Kiew einen versuchten Anschlag auf Kremlchef Wladimir Putin vor und droht mit Gegenmaßnahmen.
»Verlust eines Krieges führte immer zu Revolten«
Kasparow, der gestern beim Ludwig-Erhard-Gipfel am Tegernsee mit dem »Freiheitspreis der Medien« ausgezeichnet wurde, sieht im Fall eines Endes des Ukraine-Krieges und einer Niederlage Putins »dramatische Konsequenzen« für Russland. »Wir wissen aus der russischen Geschichte, dass, während ein Krieg erfolgreich geführt wird, die Leute Konsequenzen ertragen und Opfer akzeptieren können«, sagte der 60-Jährige. »Der Verlust eines Krieges führte aber immer zu Revolten und Revolutionen.«
Russland sei in einem »schrecklichen Zustand«. »Ich glaube, es wird dann eine Explosion geben. Die Frage ist: Was wird das Ergebnis dieser Explosion sein? Und dieses wird sehr von unserer Bereitschaft abhängen, im Fall der Fälle einen Plan zu haben und ob wir Russland eine Möglichkeit zeigen können, sich zu erholen. Es geht darum, eine Chance anzubieten«, sagte Kasparow.
Bekannter Kreml-Kritiker
Kasparow wurde als Schachgenie berühmt und 1985 mit nur 22 Jahren zum jüngsten Schachweltmeister der Geschichte. Nach dem Ende seiner Schachkarriere machte sich der Sohn eines deutsch-jüdischen Vaters und einer Armenierin einen Namen als scharfer Kreml-Kritiker. Er war Mitbegründer mehrerer oppositioneller Bündnisse, Kampagnen, Organisationen und Parteien und gilt heute als einer der führenden russischen Oppositionellen. Er lebt im Exil in New York.
»Ich glaube, ich muss eine Rolle darin spielen, Russland wieder zurückzubringen«, sagte Kasparow der dpa. »Es geht um den nie endenden Kampf zwischen Freiheit und Tyrannei. Und wie dieser globale Kampf ausgeht, wird sehr von den Ergebnissen unserer Anstrengungen abhängen, Russland und das, was gut war in der russischen Geschichte, wiederzubeleben.«
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