Der Gegenwind, der ihnen angeblich ständig ins Gesicht bläst, ist die am meisten strapazierte Metapher beim Bundesparteitag der Grünen in Karlsruhe. Die Amtsträger und Kandidaten, die dieses Bild bemühen, betonen gerne, dass sie trotzdem nicht wackeln, und werden mit Applaus oder gar Jubel belohnt. Das tut gut in Zeiten, in denen die Grünen unter der Unbeliebtheit ihrer Ampel-Koalition mit SPD und FDP leiden und neue Verwerfungen auf EU-Ebene schmerzen. Viele finden warme Worte für den Einsatz der eigenen Minister, insbesondere Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock.
Zur einzigen harten Konfrontation kommt es in der Nacht zum Sonntag bei einer Debatte zur Flüchtlingspolitik und anstehenden Verschärfungen. »Kein Mensch ist illegal«-Rufe schallen durch den Saal. Empörte Grüne mit anklagenden Plakaten schreiten durch die Reihen. Die Vorsitzende der Grünen Jugend, Katharina Stolla, warnt: »Wer Rechten hinterherläuft, der gerät ins Stolpern.«
Keine Mehrheit für Änderungsantrag der Grünen Jugend
Habeck hält dagegen. Handlungsleitend dürfe nicht das Verlangen sein, in dieser Frage »auf der richtigen Seite zu stehen«. Er warnt, die Vorschläge der Nachwuchsorganisation seien in Wahrheit »ein Misstrauensvotum in Verkleidung« und eine indirekte Aufforderung, die Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP zu verlassen. Am Ende gibt es zwar viel lautstarke Unterstützung, aber keine Mehrheit für den Änderungsantrag der Grünen Jugend. Die Nachwuchsorganisation hatte einen Antrag gestellt, mit dem sie Ministern sowie Fraktionen in Bund und Ländern die Zustimmung zu »weiteren Asylrechtsverschärfungen« verbieten wollten.
Gleich zu Anfang der Debatte zum Programm ihrer Partei für die Europawahl betont die Co-Bundesvorsitzende Ricarda Lang, »dass Europa nichts ist, was man irgendwie noch am Seitenrand macht, sondern die Grundlage unseres politischen Handeln«. Baerbock beschreibt Europa als »unsere Lebensversicherung«. Europa, das ist für viele Grüne auch ein Sehnsuchtsort, wo sich die eigene Politik jenseits von Rücksichten auf tatsächliche oder mögliche Koalitionspartner verfolgen lässt - oder zumindest mal formulieren.
Doch in der Praxis wird manches von dem, worüber aktuell auf EU-Ebene verhandelt wird, für die Grünen intern zu einer Belastungsprobe - ähnlich wie es die Union ab 2010 in Regierungsverantwortung erlebt hat, als entgegen der Überzeugung vieler deutscher Konservativer immer neue »Rettungsschirme« für vom Bankrott bedrohte Staaten der Eurozone aufgespannt wurden.
In der Asyldebatte appelliert Baerbock an den Realitätssinn der Delegierten und betont, Deutschland vertrete mit seiner liberalen Haltung zur Flüchtlingspolitik auf EU-Ebene eine Minderheitsposition, ebenso wie die Grünen in Deutschland.
Baerbock: »Unsere Vielfalt ist unsere Stärke«
Auch in außenpolitischen Fragen zeige sich manchmal, dass Geschlossenheit in der Europäischen Union »kein Selbstläufer ist«, räumt Baerbock ein. Nicht nur der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine sei da eine Herausforderung gewesen. Die EU werde auch »getestet jetzt in den letzten Wochen durch die Situation im Nahen Osten, wo wir - auch da müssen wir ehrlich sein - nicht immer als Europäer eine gemeinsame Sprache gefunden haben«, fügt sie hinzu.
Die Bundesregierung sagt weniger als die meisten EU-Staaten zur Verhältnismäßigkeit der israelischen Militäroperationen im Gazastreifen nach dem Hamas-Terrorüberfall. Baerbock lässt unerwähnt, dass die Bundesregierung auch hier eine Minderheitsposition einnimmt. Stattdessen will sie der Uneinigkeit einen positiven Anstrich geben: »Unsere Vielfalt ist unsere Stärke.«
Dass die Regierungsmitglieder und führende Vertreterinnen der Bundestagsfraktion dafür werben, über den eigenen Tellerrand hinausschauen und auf potenzielle Wähler jenseits der klassischen Grünen-Anhängerschaft zuzugehen, kommt bei der Basis, wie sie in Karlsruhe vertreten ist, teils nicht gut an. Delegierte fordern, man solle nicht »Wohlstand« als Ziel definieren, sondern angesichts der Klimakrise die Grenzen des Wachstums klar benennen - scheitern allerdings mit diesem Vorstoß.
Nur ein Drittel wünschen sich Fortbestehen der Ampel
Als unnötige Anbiederung bei Konservativen empfinden viele Parteitagsteilnehmer, dass in dem vom Bundesvorstand unterstützen Entwurf für das Europawahlprogramm der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) zitiert wird. Dabei haben sie nichts auszusetzen am Inhalt des Zitats: »Die Einheit Europas war ein Traum von Wenigen. Sie wurde eine Hoffnung für Viele. Sie ist heute eine Notwendigkeit für uns alle.« Es geht ihnen um die Person. Am Ende stellt sich eine Mehrheit hinter den Änderungsantrag, der Passus wird aus dem Entwurf gestrichen.
Nur in Nebensätzen erwähnt wird in Karlsruhe die Unbeliebtheit des Regierungsbündnisses von SPD, Grünen und FDP, dessen Fortbestehen sich laut ARD-Deutschlandtrend nur noch rund ein Drittel der Wahlberechtigten wünschen. Fragt man Spitzenpolitiker der Grünen, hört man oft, die Ampel-Koalition kommuniziere halt nicht gut und verstehe es manchmal nicht, ihre Erfolge ins Schaufenster zu stellen.
»Es geht um die Wurst«, steht auf einem Aufkleber der Grünen aus Thüringen, den junge Delegierte auf dem Parteitag verteilen. Nein, hier geht es nicht um vegetarische Ernährung im Land der Bratwurst. Sie wollen vielmehr um Unterstützung für einen schwierigen Wahlkampf werben. Aktuelle Umfragen sehen die an der Erfurter Regierung beteiligten Grünen in Thüringen unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde - und die AfD auf Platz eins.
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