Wiesbaden (dpa) - Die Zahl pflegebedürftiger Menschen könnte nach neuen Berechnungen allein durch die zunehmende Alterung bis zum Jahr 2055 in Deutschland auf rund 6,8 Millionen Menschen ansteigen. Das wäre ein Plus von 37 Prozent im Vergleich zum Jahr 2021, teilte das Statistische Bundesamt am Donnerstag in Wiesbaden mit.
Grund sind die Babyboomer, also die geburtenstarken Jahrgänge. Anschließend seien keine großen Veränderungen mehr zu erwarten, im Jahr 2070 wären etwa 6,9 Millionen Pflegebedürftige in Deutschland möglich. Für das Jahr 2035 geht das Bundesamt von etwa 5,6 Millionen Pflegebedürftigen aus.
Der Vorausberechnung legt das Bundesamt einen konstanten Anteil von Pflegebedürftigen an der Bevölkerung zugrunde. Die Behörde veröffentlichte zudem eine Berechnung auf Grundlage eines höheren Anteils: Dann läge die Zahl der Pflegebedürftigen im Jahr 2035 bundesweit bereits bei 6,3 Millionen (plus 27 Prozent gegenüber 2021) und im Jahr 2055 bei 7,6 Millionen (plus 53 Prozent). Im Jahr 2070 wäre dann eine Zahl von 7,7 Millionen möglich (plus 55 Prozent).
Je weiter in der Zukunft, desto schwerer vorhersehbar ist die Entwicklung. Das Bundesamt erklärte, deshalb handele es sich nicht um Prognosen, sondern um mögliche Entwicklungen. Johannes Geyer vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sagt, in der Vergangenheit hätten sich die meisten Schätzungen als zu konservativ erwiesen. So sei man vor zehn Jahren noch von weniger als vier Millionen Pflegebedürftigen im Jahr 2030 ausgegangen.
Derzeit erfolgt Pflege häufig in der Familie
Entscheidend sei die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen. Diese könne künftig auch deshalb höher ausfallen, wenn die Regelungen, wer Leistungen erhalte, noch weiter gefasst werden. Derzeit erfolge Pflege zudem häufig in der Familie. Gebe es eine steigende Zahl von Alleinlebenden und kleineren Familiennetzwerken, sei dies nicht mehr im bisherigen Umfang möglich.
Klar sei: »Der Druck auf die Familien, die den Hauptteil der Pflege tragen, und auf den jetzt schon mit Personalmangel kämpfenden Pflegesektor wird steigen«, sagte der Experte. Gleiches gelte für den Kostendruck in der Pflegeversicherung. Die derzeitige politische Debatte konzentriere sich sehr stark auf den stationären Bereich. Menschen wollten aber ihren Lebensabend meist in ihrer vertrauten Umgebung verbringen. Deshalb müsse auch darüber nachgedacht werden, die ambulante Versorgung zu stärken.
Der Schuh in der Pflege, vor allem im häuslichen Umfeld, drücke schon länger, erklärt der Sozialverband VdK. Die fünf Millionen Menschen, die derzeit gepflegt würden, würden zum überwiegenden Teil von ihren Familien oder Nachbarn gepflegt. Die politischen Reformen stellten die Weichen in Richtung Heimförderung, was an dieser Realität völlig vorbei gehe. Für pflegende Menschen fordere der VdK einen Pflegelohn. Nur damit und mit einem Rechtsanspruch auf einen Tagespflegeplatz könne der Anstieg in den kommenden Jahrzehnten bewältigt werden, erklärte Verbandspräsidentin Verena Bentele.
Warnung vor der Armutsfalle
Die Zahlen des Bundesamts müssten Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) eine Mahnung sein, die Leistungen der Pflegeversicherung generationengerecht und zukunftssicher zu machen, forderte Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Lauterbach müsse unverzüglich gegensteuern, sonst würden immer mehr Menschen an ihrem Lebensabend in die Armutsfalle rutschen.
Schon heute sei die pflegerische Versorgung vielerorts nicht
gesichert, erklärte der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste: »Es muss gewaltig etwas geschehen, damit Deutschland nicht mit Hochgeschwindigkeit in eine pflegerische Unterversorgung rauscht.«
Der Bundesgesundheitsminister arbeitet an einer Pflegereform. Es soll wegen stark steigender Kosten für die Pflege Entlastungen für Pflegebedürftige geben - aber auch höhere Beiträge. Der Pflegebeitrag soll zum Sommer erhöht werden und zudem stärker danach unterscheiden, ob man Kinder hat oder nicht.
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