Fast 20 Jahre nach der Zwangsauflösung der Sektensiedlung Colonia Dignidad wollen Deutschland und Chile mit einer Gedenkstätte an die dort verübten Gräueltaten erinnern. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und der chilenische Präsident Gabriel Boric sprachen sich am Sonntagabend (Ortszeit) nach einem Treffen in Santiago de Chile gemeinsam dafür aus.
Die Idee, auf dem fast 400 Kilometer südlich der chilenischen Hauptstadt gelegenen Gelände eine Gedenkstätte zu errichten, »hat die Unterstützung unserer Regierung, und wir werden uns entsprechend beteiligen«, sagte Scholz. Boric bedankte sich für die »Bereitschaft der deutschen Regierung, zur Suche nach der Wahrheit« beizutragen. »Wir unterstützen das komplett. Der chilenische Staat kämpft unermüdlich für die ganze Wahrheit und Gerechtigkeit«.
»Die Geschichte der Colonia Dignidad ist schrecklich«
Die Colonia Dignidad hatte sich ab 1961 zu einem Ort des Grauens entwickelt. Der Laienprediger Paul Schäfer war damals mit seinen Anhängern von Deutschland nach Chile gezogen und hatte am Fuße der Anden die »Kolonie der Würde« gegründet. Jahrzehntelang ließ er die Sektenmitglieder dort ohne Lohn arbeiten, riss Familien auseinander und missbrauchte Kinder. Während der Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet (1973-1990) wurden auf dem 17 000 Hektar großen Areal Regimegegner gefoltert und ermordet.
»Die Geschichte der Colonia Dignidad ist schrecklich«, sagte der Linkspolitiker Boric, der im Dezember 2021 zum jüngsten Präsidenten Chiles gewählt worden war. Mit dem damals 35-Jährigen zog auch eine neue politische Generation in den Präsidentenpalast ein, die die Militärdiktatur nicht mehr bewusst erlebte und sich von deren Erbe trennen will.
Rundgang durch Museum zur Militärdiktatur auf Wunsch des Präsidenten
Auf Wunsch des Staatsoberhaupts begann der Chile-Besuch des Kanzlers mit einem gemeinsamen Rundgang durch das »Museum der Erinnerung und der Menschenrechte«, das an die Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet erinnert. Im Präsidentenpalast besichtigten die beiden den »Weißen Salon«, in dem sich der sozialistische Präsident Salvador Allende am 11. September 1973 das Leben nahm, als die Putschisten den Palast stürmten.
Scholz hat an die Pinochet-Diktatur noch eigene Erinnerungen. Ende der 80er Jahre besuchte er Chile als Funktionär der Internationalen Union der Sozialistischen Jugend, kurz vor dem dem Ende der Diktatur. Im September jährt sich der Putsch zum 50. Mal.
Sektensiedlung wurde zum Hotelkomplex »Villa Baviera«
Die Colonia Dignidad wurde 2005 von der chilenischen Regierung unter Zwangsverwaltung gestellt. Inzwischen befindet sich auf dem Gelände das Hotel »Villa Baviera« (Villa Bayern), in dem noch ehemalige Mitglieder der Sekte tätig sind. Beim Aufbau einer Gedenkstätte wolle Deutschland seinen Beitrag »als Partner« leisten, sagte Scholz. »Wir wollen hilfreich sein. Wir wissen wie sensibel das ganze Thema ist, es gibt verschiedene Opfergruppen.« Die wesentlichen Entscheidungen müssten in Chile fallen.
Menschenrechts- und Opferorganisationen hatten sowohl der chilenischen als auch der deutschen Justiz immer wieder vorgeworfen, die begangenen Verbrechen nicht ausreichend zu verfolgen und die Regierungen beider Länder kritisiert, die Errichtung einer Gedenkstätte zu verschleppen. Auch der Bundestag hatte schon 2017 einen Ort des Gedenkens gefordert.
Rohstoffpartnerschaft vereinbart
Wirtschaftlich ging es beim Besuch des Kanzlers vor allem um eine stärkere Zusammenarbeit im Rohstoffbereich, die mit einem Regierungsabkommen vereinbart wurde. Das deutsche Unternehmen Aurubis und der chilenische Kupferkonzern Codelco vereinbarten zudem, bei der Modernisierung der Kupferproduktion enger zusammenzuarbeiten.
Interessant sind für Deutschland auch die riesigen Vorkommen von Lithium in Chile, das für die Produktion von Elektroautos benötigt wird. Bei der Ausbeutung der Vorkommen hat China derzeit die Nase weit vorne. Chile plant nun die Gründung eines nationalen Lithium-Unternehmens, das auch Chancen für deutsche Unternehmen bieten könnte. Scholz betonte, dass Chile dabei unterstützt werden müsse, auch die Verarbeitung von Rohstoffen selbst vornehmen zu können.
Auf einem Wirtschaftsforum sprach der Kanzler von einem »enormen Potenzial«, das Chile wirtschaftlich biete. Er warnte vor einem »Rückzug in nationale Schneckenhäuser« in der Wirtschaftspolitik und bot dem südamerikanischen Land mehr Austausch von Technologien und Innovationen an. »Dass Chile dabei für uns ein Wunschpartner ist, habe ich hoffentlich deutlich gemacht«, sagte er.
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