Die historische Absetzung des Vorsitzenden des US-Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, durch den radikalen Flügel der Republikaner bringt das US-Parlament bis auf Weiteres zum Stillstand und hat Auswirkungen weit über die USA hinaus.
Eine Mehrheit der Kongresskammer stimmte am Dienstag dafür, McCarthy von seinem mächtigen Posten abzusetzen. Hintergrund ist eine interne Revolte bei den Republikanern. Es ist das erste Mal in der US-Geschichte, dass ein Vorsitzender des Repräsentantenhauses auf diesem Weg seinen Job verliert. Das Drama dürfte den Republikanern politisch sehr schaden.
Die Revolte
Die Aktion ist der vorläufige Höhepunkt eines langen Kampfes der Republikaner um nicht weniger als das Wesen der Partei. Die Aktion legt auf plakative Weise offen, wie eine kleine Gruppe radikaler Kräfte die Partei vor sich hertreibt. Der republikanische Hardliner Matt Gaetz und sieben weitere Republikaner vom rechten Rand der Fraktion stimmten dafür, McCarthy zu entmachten.
Die Demokraten im Repräsentantenhaus wiederum verzichteten darauf, McCarthy zu Hilfe zu kommen und votierten ebenso gegen ihn. Die Republikaner haben eigentlich das Sagen in der Kammer, aber nur mit knappem Vorsprung. Die überwältigende Mehrheit der republikanischen Fraktion stellte sich hinter McCarthy, doch durch die acht Rebellen kam eine knappe Mehrheit gegen McCarthy zustande.
Gaetz und seine Mitstreiter warfen McCarthy vor, er habe gegen fraktionsinterne Absprachen verstoßen und mache lieber mit US-Präsident Joe Biden und dessen Demokraten gemeinsame Sache, anstatt die Interessen seiner Fraktion zu vertreten. Gaetz störte sich unter anderem daran, dass McCarthy am vergangenen Wochenende mit den Stimmen von Demokraten einen drohenden Stillstand der Regierung im letzten Moment abgewendet hatte. Gaetz sagte, McCarthy sei Teil des »Sumpfes« von Washington - ihm sei nicht zu trauen.
Die Folgen
Bis ein neuer Vorsitzender gewählt ist, geht nichts mehr im Repräsentantenhaus: Die gesetzgeberische Arbeit liegt vorerst auf Eis. Und das in Zeiten, in denen der Kongress unter anderem die Verabschiedung eines Bundeshaushalts vor sich hat. Ein beschlossener Übergangshaushalt läuft Mitte November aus. Ist bis dahin kein neues Budget verabschiedet, steuern die USA erneut auf einen Stillstand der Regierungsgeschäfte zu, einen »Shutdown«.
Das Parlament muss auch über neue Hilfen für die Ukraine entscheiden. Im Übergangshaushalt sind keine weiteren Hilfen für das von Russland angegriffene Land vorgesehen. Das heißt nicht, dass die USA Kiew von jetzt auf gleich nicht mehr unterstützen. Allerdings geht das bisher genehmigte Geld zur Neige, neue Mittel müssen her. Die internen Kämpfe der Republikaner haben daher auch internationale Auswirkungen.
Noch dazu ist ein verfassungsrechtlich wichtiger Posten unbesetzt. Der Vorsitzende des Repräsentantenhauses kommt in der staatlichen Rangfolge an dritter Stelle nach dem Präsidenten und dessen Vize. Der Republikaner Patrick McHenry übernimmt zwar als Interims-Vorsitzender formale Aufgaben, füllt die Rolle aber nicht politisch aus.
Der Anführer
Gaetz gehört seit geraumer Zeit zu den erbittertsten Gegnern McCarthys. Der 41-Jährige vertritt rechte Positionen und verbreitet regelmäßig Verschwörungstheorien. Er steht stramm an der Seite von Ex-Präsident Donald Trump und sagte mit Blick auf die Revolte, er betreibe lediglich »Hausputz« für die Zeit, wenn Trump an die Spitze der Regierung zurückkehre.
Mit seiner Rebellion bekam Gaetz am Dienstag die ganz große Bühne. Diverse Male meldete er sich bei der Debatte im Parlament zu Wort und scharte vor und nach der Abstimmung Dutzende Reporter um sich. Er ist das Gesicht der Rebellion.
Der Verlierer
McCarthy gab nach seiner dramatischen Abwahl eine längliche Pressekonferenz. In einem teils emotionalen, teils angriffslustigen Auftritt teilte der 58-Jährige gegen seine Gegner aus, insbesondere gegen Gaetz. Diesem sei es nie um Inhalte gegangen, sondern allein um Persönliches - und darum, Medienaufmerksamkeit zu bekommen. Nichts von dem, was Gaetz sage, sei wahr.
McCarthy beklagte sich auch bitterlich, dass ein Vorsitzender die überwältigende Mehrheit seiner Fraktion hinter sich habe und trotzdem von acht Abgeordneten gemeinsam mit der anderen Partei aus dem Amt entfernt werde. Das Parlament als Institution habe versagt. Mit einem bemühten Lächeln auf dem Gesicht verkündete der Geschasste, er sei mit sich im Reinen und würde im Rückblick rein gar nichts anders machen. Selbstironisch schob er nach: »Ich habe Geschichte geschrieben, oder?«
Die Nachfolge
Wer nachrücken könnte, ist völlig unklar. McCarthy jedenfalls will nicht noch mal antreten - das machte er nach dem Votum klar. Auch Gaetz versicherte, er habe keine Ambitionen, selbst zu kandidieren - er wäre auch nicht mehrheitsfähig. In einer extrem zersplitterten Fraktion ist generell unklar, wer genug Parteikollegen hinter sich vereinen kann.
Mehrere Namen gehen um: darunter die bisherige republikanische Nummer zwei in der Kammer, Steve Scalise. Nach übereinstimmenden Medienberichten hat sich zudem ein weiterer Republikaner öffentlich für die Nachfolge angeboten. Der Trump-Getreue und Abgeordnete Jim Jordan aus den Bundesstaat Ohio habe auf die Frage von Journalisten am US-Kongress, ob er für das Amt kandidieren wollte, mit »ja« beantwortet, berichteten untere anderem die Sender ABC News und Fox News. Jordan leitet auch den Justizausschuss, der sich mit Impeachment-Ermittlungen gegen US-Präsident Joe Biden beschäftigt.
Auch der frühere US-Präsident Donald Trump befeuert im Internet Gerüchte über eine mögliche Kandidatur bei der Wahl zum Vorsitzenden des Repräsentantenhauses. Der Republikaner veröffentlichte auf seiner Plattform Truth Social eine entsprechende Fotomontage. Darauf ist er mit dem Holzhammer des Vorsitzenden in der Hand zu sehen. Auf dem Kopf trägt er eine Baseballkappe, auf der sein Wahlkampfmotto: »Make America Great Again« (auf Deutsch: Macht Amerika wieder großartig) steht.
Klar ist vorerst nur, dass eine Woche lang gar nichts passiert: So viel Zeit wollen sich die Republikaner nehmen, um sich zu sortieren und Personalien auszuloten. Frühestens Mitte kommender Woche könnte es eine Wahl geben. Wie viele Wahlgänge nötig sein werden, ist offen.
Die Zerreißprobe der Republikaner
Vor dem Votum duellierten sich Gaetz und andere Hardliner auf offener Bühne im Parlament mit moderaten Republikanern. Der Republikaner Tom McClintock beklagte, das Parlament werde gelähmt und Woche für Woche mit fruchtlosen Wahlgängen beschäftigt sein, während die eigentliche Arbeit liegen bleibe. Er sagte voraus: »Die Demokraten werden in der republikanischen Dysfunktionalität schwelgen, und die Öffentlichkeit wird zu Recht abgestoßen sein.«
Der Republikaner Kelly Armstrong schimpfte, seine Fraktion werde von einer kleinen Gruppe als Geisel genommen. Dies könnte den Republikanern am Ende die Mehrheit kosten. Der Republikaner Newt Gingrich forderte nach dem Votum, Gaetz aus der Fraktion auszuschließen. Er sei ein Anti-Republikaner, der der konservativen Bewegung aktiv geschadet habe.
Das Abwarten der Demokraten
Die Demokraten argumentierten, es sei nicht ihre Aufgabe, McCarthy vor dem »Bürgerkrieg« in den eigenen Reihen zu retten. Es sei an der Mehrheitsfraktion, den Vorsitzenden zu bestimmen. Vorerst könnten die Demokraten von der Implosion der republikanischen Fraktion profitieren. Doch je länger der Stillstand im Kongress dauert, umso größer dürfte der Druck auf sie werden, im Sinne des Landes Vernunft zu zeigen und einen Kompromisskandidaten zu unterstützen.
Der lange Kampf
McCarthy war im Januar erst im 15. Wahlgang ins Vorsitzenden-Amt gehievt worden. Schon das war eine Demütigung historischer Dimension. McCarthy galt dadurch von Anfang an als angezählt. Er musste den radikalen Rechten seiner Fraktion damals weit entgegenkommen, um mit ihrer Hilfe gewählt zu werden. Seitdem trieben sie ihn erbarmungslos vor sich her. Unter anderem hatten die Hardliner in der Fraktion damals durchgesetzt, dass ein einzelner Abgeordneter einen Antrag auf Absetzung des Vorsitzenden stellen kann - was Gaetz nun ausnutzte.
Biden: »Müssen vergiftete Atmosphäre in Washington ändern«
US-Präsident Joe Biden rief nach der historischen Absetzung des Vorsitzenden des US-Repräsentantenhauses zu einem friedlicheren Miteinander in der Politik auf. »Wir müssen die vergiftete Atmosphäre in Washington ändern«, sagte Biden in Washington.
»Wir haben große Meinungsverschiedenheiten, aber wir müssen aufhören, uns gegenseitig als Feinde zu sehen. Wir müssen miteinander reden, einander zuhören, miteinander arbeiten - und das können wir auch.« Die Wahl eines neuen Vorsitzenden in der Kammer werde »einige Zeit dauern«, doch es gebe »eine Menge Arbeit« zu tun und das amerikanische Volk erwarte, dass sie erledigt werde. Biden mahnte, es dürfe nicht wieder zu einer Entscheidung im letzten Moment kommen, die die Regierung lahmzulegen drohe.
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