Was wusste Joseph Ratzinger im Missbrauchsskandal über den Wiederholungstäter Priester H.? Diese ohnehin brisante Frage bekommt durch einen nun bekannt gewordenen Schriftwechsel neuen Zündstoff, über den Correctiv und der Bayerische Rundfunk berichteten. Wie das Erzbistum München und Freising am Dienstag bestätigte, erteilte Ratzinger 1986 als Chef der Glaubenskongregation dem Skandalpriester in einem von ihm selbst unterschriebenen Brief die Erlaubnis, die Heilige Messe mit Traubensaft statt mit Wein zu feiern.
Das Erzbistum hatte zuvor um diese Sondererlaubnis gebeten und die Bitte damit begründet, dass der Priester unter Alkoholeinfluss Straftaten nach den Paragrafen 174, 176 und 184 des Strafgesetzbuches (StGB) begangen habe. Die Paragrafen behandeln sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen, sexuellen Missbrauch von Kindern und die Verbreitung pornografischer Inhalte.
Ratzinger, der spätere und an Silvester vergangenen Jahres gestorbene Papst Benedikt XVI. kam dieser Bitte nach, wie ein Sprecher des Erzbistums bestätigte: »Es gibt dieses Antwortschreiben, das von Ratzinger unterschrieben wurde.«
Der Priester H. war 1980 nach Missbrauchsvorwürfen gegen ihn aus Nordrhein-Westfalen in das Erzbistum München und Freising versetzt worden. Damals war Ratzinger dort Erzbischof. Der spätere Papst hatte zu Lebzeiten stets bestritten, damals von den Vorwürfen gegen H. gewusst zu haben.
Beweis dafür, dass Ratzinger mehr wusste?
Der Kirchenrechtler Thomas Schüller sieht in dem Brief einen Beweis dafür, dass Ratzinger mehr wusste, als er öffentlich einräumte. Der Brief bedeute, dass der spätere Pontifex über die Sexualstraftaten von Priester H. »im Bilde war«, sagte Schüller der Deutschen Presse-Agentur. »Wenn ein Bistum die Erlaubnis für Traubensaft statt Wein für einen alkoholkranken Priester bei der zuständigen Glaubenskongregation beantragte, musste sie präzise die Gründe für diese Ausnahmeregelung darlegen. Dies ist in diesem Fall mit Verweis auf die erhöhte Gefahr, die von H. bei Alkoholkonsum für den sexuellen Missbrauch von Kindern ausging, eindeutig geschehen.«
Der Sprecher der Operinitiative »Eckiger Tisch«, Matthias Katsch, sagte der dpa: »Diese Nachricht bestätigt, was wir im Hinblick auf die Verantwortung von Benedikt gesagt haben: Benedikt war mitnichten der große Aufklärer. Er handelte allenfalls unter Zwang. Solange er unbeobachtet und nicht unter Druck stand, blieb er seiner Linie treu, die die Linie der Kirche war: Verständnis für die Täter und Ignoranz der Opfer.«
Der Fall H. war der prominenteste im Gutachten der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) über sexuelle Gewalt im Erzbistum München und Freising, das im vergangenen Jahr Schlagzeilen machte. Der Kanzlei habe auch der nun bekannt gewordene Schriftwechsel vorgelegen, sagte der Sprecher des Erzbistums. In dem Gutachten kommt der allerdings nicht vor - wohl weil er vom Untersuchungsauftrag nicht umfasst war.
Andenken nachhaltig beschädigt
Die Studie der Münchner Anwaltskanzlei hatte im Januar 2022 vor allem darum für Wirbel gesorgt, weil Ratzinger persönlich Fehlverhalten in mehreren Fällen vorgeworfen wurde. Dass er Angaben, er habe als Münchner Erzbischof an einer Sitzung, in der es um den versetzten Wiederholungstäter H. ging, nicht teilgenommen, korrigieren musste, machte weltweit Schlagzeilen und dürfte das Andenken an den bayerischen Papst nachhaltig beschädigt haben.
H. wurde nach seiner Versetzung rückfällig und 1986 - dem Jahr des nun bekannt gewordenen Schriftwechsels des Erzbistums mit Ratzinger - vom Amtsgericht Ebersberg wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger zu 18 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und einer Geldstrafe in Höhe von 4000 Mark verurteilt.
Trotzdem wurde H. selbst danach wieder als Pfarrer eingesetzt - und missbrauchte in Garching an der Alz erneut Kinder. Eines seiner Opfer hat H. verklagt und wegen Vertuschungsvorwürfen auch das Erzbistum München sowie die früheren Kardinäle Ratzinger und Friedrich Wetter. Am 28. März soll es am Landgericht Traunstein zur Verhandlung kommen. Das Verfahren gegen Ratzinger ruht, bis klar ist, wer seine rechtliche Nachfolge antritt.
»Die neue Sachlage wird in das anhängige Zivilverfahren Eingang finden«, sagte der Anwalt des Kläger, Andreas Schulz. »Ratzingers Schatten im Missbrauchsfall H. wird die Kirche ebenso verfolgen wie sein dadurch verhindertes sancto subito.«
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