HAMBURG. Dramatische Szenen am Hamburger Flughafen: Ein bewaffneter Mann durchbricht nach Angaben der Bundespolizei am Samstagabend gegen 20.00 Uhr mit einem Auto ein Tor, fährt auf das Vorfeld des Airports, schießt in die Luft und wirft »eine Art Molotowcocktails« aus dem Wagen. Der Mann hat seine vierjährige Tochter mit im Auto - vorausgegangen war laut Polizei wohl ein Sorgerechtsstreit mit der Mutter.
Tausende Menschen sind betroffen
Der Flughafen wird sofort weiträumig gesperrt, die beiden Terminals werden geräumt. Alle Passagiere in den Flugzeugen werden aus den Maschinen geholt und in einem nahe gelegenen Flughafenhotel untergebracht. Insgesamt 3200 Passagiere seien betroffen gewesen, sagte ein Polizeisprecher am Samstagabend.
Passagiere verbringen Nacht im Hotel
Wegen der Geiselnahme auf dem Hamburger Flughafen haben zahlreiche Passagiere die Nacht in einem Hotel verbracht. »Wir haben hier im Endeffekt 250 Leute untergebracht«, sagte Frank Kohlstädt, Leiter der DRK-Station am Flughafen, der dpa. Rund 200 Menschen hätten zudem noch Hotelzimmer bekommen. »Im Moment ist das Hauptproblem, dass sie nicht genau wissen, wie es weitergeht.« Die Menschen seien eher aufgeregt gewesen als psychisch belastet.
Auch Jennifer verbrachte die Nacht in dem Hotel, weil Ihr Flug nach München nicht abheben konnte. Das Flugzeug sei zurück in die Parkposition geschoben worden, sagte die 33-Jährige. »Dann haben wir halt gewartet, gewartet, gewartet.« Schließlich hätten Passagiere im Internet von dem Vorfall am Flughafen erfahren, kurz darauf habe der Pilot sich gemeldet. »Irgendwann hieß es dann auch Geiselnahme.« Dann seien im Flieger die Lichter gelöscht worden. Schließlich hätten sie das Flugzeug verlassen. Es sei ein komisches Gefühl gewesen, weil die Passagiere nicht viel wussten. Das Gepäck sei im Flieger geblieben.
Ein anderer Passagier, der im Hotel gestrandet ist, berichtete, dass zum Zeitpunkt seines Eincheckens gegen 20.25 Uhr bereits die Bundespolizei am Schalter gestanden habe. »Die wussten ganz genau, dass zu dem Zeitpunkt der Typ da draußen immer noch ist und haben uns trotzdem mit allen Leuten rausgesetzt, ohne uns irgendwie eine Info zu geben«, sagte Johannes Cruse. Im Flieger sei zunächst von einer Verspätung die Rede gewesen, durch Recherche im Netz habe man aber mitbekommen, was los sei. Im Hotel hätten Passagiere zunächst stundenlang auf dem kalten Boden gelegen, nach drei Stunden dann Decken erhalten, sagte der Passagier.
Flugbetrieb eingestellt
Am frühen Sonntag teilte der Flughafen mit, dass der Flugbetrieb wegen der Geiselnahme auf unbestimmte Zeit eingestellt bleibe. »Es kommt zu Flugstreichungen und Verzögerungen über den gesamten Tag«, teilte der Flughafen weiter mit. Die Polizei bitte, dass Fluggäste vorerst nicht zum Flughafen anreisen. Für den gesamten Tag waren laut Airport eigentlich 286 Flüge - 139 Abflüge und 147 Ankünfte - mit rund 34.500 Passagieren geplant.
Kontakt mit Geiselnehmer
Die Hamburger Polizei verhandelte die ganze Nacht mit dem Mann. Mit dem vermutlich 35-jährigen Mann werde auf Türkisch verhandelt, sagte Polizeisprecherin Sandra Levgrün. »Wir setzen hier auf eine Verhandlungslösung«, sagte sie der Deutschen-Presse-Agentur. Dass sich die Gespräche so lange hinzogen, bewertete sie positiv: »Das ist ein absolut gutes Zeichen«, betonte sie. »Er ist uns zugewandt. Er will mit uns sprechen und das bewerten wir erst einmal als sehr positiv.« Allerdings gab es auch nach mehr als zwölf Stunden am Flughafen keinen Durchbruch. »Wir sprechen, wir sprechen, wir sprechen - und versuchen eine friedliche Lösung zu finden, mit der alle gut leben können«, sagte Levgrün am Sonntagvormittag.
Geiselnehmer laut Polizei weiterhin bewaffnet
Der Geiselnehmer auf dem Hamburger Flughafen ist nach Einschätzung der Polizei weiterhin bewaffnet. »Aktuell müssen wir davon ausgehen, dass er im Besitz einer scharfen Schusswaffe ist und evtl. auch von Sprengsätzen unbekannter Art«, schrieb die Polizei auf X, früher Twitter. Oberste Priorität sei der Schutz der vierjährigen Tochter des Mannes, die sich in dem Auto befindet.
Vierjähriges Kind im Auto wohl unversehrt
Das von dem 35 Jahre alten Mann als Geisel im Auto festgehaltene vierjährige Mädchen ist allem Anschein körperlich unversehrt. »Wir gehen im Moment davon aus, dass es dem Kind körperlich gut geht«, sagte Polizeisprecherin Levgrün am Sonntagvormittag der dpa. Die Polizei habe Blickkontakt zu dem Kind. Auch Telefonate mit dem Täter - »da ist das Kind im Hintergrund zu hören« - ließen darauf schließen. Körperlich gehe es dem Kind wohl gut, sagte Levgrün: »Wie es aber seelisch aussieht, darüber mag ich jetzt gar nicht spekulieren.«
Ehefrau aus Stade meldet sich
Die Ehefrau des Mannes, die sich in Stade bei Hamburg aufgehalten haben soll, hatte sich zuvor wegen möglicher Kindesentziehung bei der Landespolizei gemeldet, wie der Sprecher der Bundespolizei sagte. »Wir gehen derzeit davon aus, dass ein Sorgerechtsstreit Hintergrund des Einsatzes ist«, twitterte die Hamburger Polizei kurz vor Mitternacht. Levgrün sagte am Morgen, die Mutter sei mittlerweile in Hamburg in der Nähe des Flughafens.
Man gehe davon aus, dass der Vater der Mutter das Kind »weggenommen« und möglicherweise unter Gewalteinwirkung ins Auto gesetzt habe, bevor er nach Hamburg und dort auf das Rollfeld des Flughafens fuhr.
Passagiere schildern Ängste
»Beängstigend«, »gruselig« - so schildern Passagiere, die aus ihren Maschinen geholt wurden, ihre Eindrücke. Eine junge Frau, die am Samstagabend nach Mallorca fliegen wollte, sagte der Deutschen Presse-Agentur: Sie habe ein Feuer gesehen und erst gedacht, das werde schnell wieder gelöscht. Dann habe sie gehört, es gebe einen Amoklauf, das sei schon gruselig gewesen. Tatsächlich hatte der bewaffnete Mann bei seiner Fahrt auf dem Flughafen heraus Brandflaschen geworfen, die auf dem Vorfeld Feuer auslösten.
Eine andere Frau, die ebenfalls nach Mallorca fliegen wollte, sagte, sie habe nur ihre Handtasche mitnehmen dürfen, als das Flugzeug geräumt wurde. Alle hätten sich dabei ruhig verhalten, aber es sei auch beängstigend gewesen, weil man nicht wusste, was los war.
Eine Passagierin schilderte, dass sie beim Einsteigen gesehen habe, dass es auf dem Vorfeld brannte. Zwei Minuten vor dem geplanten Start sei dann die Durchsage gekommen: »Verlassen Sie bitte ruhig das Flugzeug«. Dann hieß es plötzlich, alle sollten sich jetzt beeilen.
Keine Verletzten unter den Passagieren
Die Polizei hatte kurz vor Mitternacht keine Erkenntnisse, dass jemand verletzt worden ist. Die Polizei sah zu dem Zeitpunkt auch keine akute Gefährdung von Dritten mehr. Das Flugzeug der Turkish Airlines, unter dem der Mann sein Auto abgestellt hatte, wurde geräumt, wie ein Polizeisprecher der dpa sagte. Es gebe keine Gefährdung Unbeteiligter mehr.
Schon zuvor Sicherheitsvorfälle
Bereits im Oktober war der Hamburger Flughafen gesperrt worden, damals allerdings wegen einer Anschlagsdrohung auf eine Maschine von Teheran nach Hamburg.
Im Juli hatten Klimaaktivisten der Gruppe Letzte Generation den Hamburger Flughafen für Stunden lahmgelegt. Der Flugbetrieb musste für mehrere Stunden aus Sicherheitsgründen eingestellt werden. Tausende Passagiere waren betroffen. Damals hatte es Forderungen nach einer Verstärkung der Sicherheit gegeben.
Flughafen sieht keine Versäumnisse bei der Sicherheit
Der Flughafen Hamburg sieht trotz der Geiselnahme keine Versäumnisse bei der Sicherung des Geländes. »Die Sicherung des Geländes entspricht allen gesetzlichen Vorgaben und übertrifft diese größtenteils«, sagte eine Flughafensprecherin der dpa. Dennoch könne bei der Größe des Flughafens - sie entspreche fast 800 Fußballfeldern - nicht ausgeschlossen werden, »dass ein hochkrimineller, unbefugter Zutritt zum Sicherheitsbereich mit brachialer Gewalt erfolgen kann«.
Die Sprecherin betonte: »Um die Sicherheit des Luftverkehrs zu gewährleisten, sind neben baulichen Maßnahmen auch Alarmketten etabliert, die einwandfrei gegriffen haben.« Der Flugbetrieb sei sofort nach dem unbefugten Zutritt eingestellt und der Täter lokalisiert worden. »Nähere Angaben zu sicherheitsrelevanten Details sind nicht möglich«, erklärte die Sprecherin.
Nach Angaben der Flughafensprecherin hat die Analyse des Vorfalls mit den Aktivisten der Letzten Generation - sie hatten sich durch den Außenzaun geschnitten und waren dann mit Fahrrädern auf das Rollfeld gelangt - keine neuen Erkenntnisse gebracht. »Es liegen noch keine neuen Anforderungen für Einrichtungen der kritischen Infrastrukturen vor«, sagte die Sprecherin. Derzeit teste der Flughafen neue Kamera- und Zaunsensorik-Systeme. »Zudem wurde die Bestreifung der Zaunanlage durch Sicherheitskräfte nachhaltig erhöht.«
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