Es ist der derzeit wohl undankbarste Job in der Bundespolitik: der Vorsitz der dahinsiechenden Linksfraktion im Bundestag. Eigentlich wollte der langjährige Fraktionschef Dietmar Bartsch den Posten abgeben, ebenso wie die Co-Vorsitzende Amira Mohamed Ali.
Nun macht Bartsch doch weiter, und zwar alleine. Auf die Gefahr hin, dass er die Fraktion eigenhändig abwickeln muss, falls die Abgeordnete Sahra Wagenknecht ernst macht mit einer eigenen Partei.
»Die Parteivorsitzenden und viele Leute aus Partei und Fraktion haben mich gebeten, die Funktion als Fraktionsvorsitzender auf unbestimmte Zeit weiter auszuüben«, sagte Bartsch der Deutschen Presse-Agentur. »Dazu bin ich angesichts der schwierigen Situation bereit. Ich kenne meine Verantwortung.« Bei der Fraktionssitzung am Dienstag machte die Linken-Vorsitzende Janine Wissler den Vorschlag offiziell - und alle anwesenden Abgeordneten stimmten zu, wie es aus Fraktionskreisen hieß.
Dauerstreit mit und um Wagenknecht
Bartsch und Mohamed Ali hatten im Sommer beide angekündigt, nicht mehr für den Fraktionsvorsitz zu kandidieren. Der 65-jährige Bartsch machte damals deutlich, dass er sich das nach mehr als 30 Jahren in Diensten der Partei nicht weiter antun will. Hintergrund ist der Dauerstreit mit und um Wagenknecht. Sie hat sich von ihrer Partei längst entfremdet und liebäugelt mit der Gründung eines Konkurrenzprojekts. Statt sich festzulegen, lässt sie die Debatte aber immer weiter köcheln.
Gängige Mutmaßung in der Linken ist, dass dies praktische Gründe hat: Die staatliche finanzielle Unterstützung fiele wohl höher aus, wenn die Partei erst im neuen Jahr an den Start geht, noch rechtzeitig vor der Europawahl im Juni. Wagenknechts Noch-Partei ist von der Hängepartie zunehmend entnervt. Einige haben sogar abermals ein Ausschlussverfahren gegen die 54-Jährige gestartet, was andere wiederum unsinnig finden.
In der Lage drängelte offenbar niemand an die Spitze der Bundestagsfraktion, denn es weiß auch niemand, wie lange es die noch gibt. Eine für den 4. September geplante Neuwahl des Fraktionsvorstands fiel mangels Nachfolgelösung für Bartsch und Mohamed Ali aus. Nun stand ein neuer Termin an: Nächste Woche endet Bartschs und Mohamed Alis Mandat offiziell. Es brauchte eine Entscheidung. Bartsch bleibt, Mohamed Ali geht.
Bartsch: »Ein Wettbewerber mehr«
Sollte Wagenknecht ihre Partei gründen und die Fraktion mit ihren Unterstützern verlassen, wäre der Fraktionsstatus der derzeit 38 Linken-Abgeordneten verloren. Die Linke könnte mit Zustimmung der übrigen Parteien im Bundestag als Gruppe weiter machen - aber mit weniger staatlicher Finanzunterstützung, weniger Redezeit und weniger Rechten im Parlament. Mangels Geld müssten wohl Mitarbeiter entlassen werden. Das könnte nun Bartsch zufallen, der die Fraktion schon 2015 - übrigens zeitweise auch mit Wagenknecht - als Co-Vorsitzender leitet.
»Es ist sehr wahrscheinlich, dass Anfang 2024 eine neue Partei gegründet wird«, sagte Bartsch der dpa. »Ich finde diese Parteigründung bekanntermaßen unverantwortlich. Mit anderen habe ich alles versucht, sie zu verhindern.« Nun aber gibt er sich trotzig: »Das heißt für mich schlicht: Ein Wettbewerber mehr.« Eine Wagenknecht Partei bedeute nicht das Ende der Linken - »das ist Unsinn«. Es gebe linke Regierungsbeteiligungen, Landräte, Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die blieben doch alle im Amt. »Viele werden weiter kämpfen, neue hinzukommen«, meinte Bartsch.
Trotzdem ist dieser Gang in die Verlängerung kaum mehr als eine Notlösung. Wissler und ihr Co-Parteichef Martin Schirdewan stecken im Schlamassel. Sie versuchen eine Neuausrichtung, um mehr junge Leute anzuziehen: mehr Klimaschutz, eine großzügige Migrationspolitik plus die Klassiker einer sozialen Umverteilungspolitik. Aber ihr Projekt kommt nicht in Schwung.
Wagenknecht grenzt sich scharf davon ab mit Positionen, die der Linken-Politiker Gregor Gysi so beschreibt: »Sie will mischen: Sozialpolitik wie die Linke, Wirtschaftspolitik wie Ludwig Erhard und Flüchtlingspolitik wie die AfD.« Was, wenn eine Wagenknecht-Partei ihren ehemaligen Genossinnen und Genossen damit weitere Stimmen wegschnappt? Viel Spielraum ist nicht mehr. Die Linke landete zuletzt bei Landtagswahlen immer wieder in der virtuellen Todeszone von zwei bis drei Prozent, wie jüngst in Bayern und Hessen.
© dpa-infocom, dpa:231017-99-598777/2