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Baerbock verurteilt Russlands Atom-Drohungen

Der Atomwaffensperrvertrag soll dafür sorgen, dass die nukleare Rüstung nicht außer Kontrolle gerät. Jetzt droht er zur Makulatur zu werden.

Annalena Baerbock
Annalena Baerbock prangert die »rücksichtslose nukleare Rhetorik« Russlands an. Foto: Britta Pedersen
Annalena Baerbock prangert die »rücksichtslose nukleare Rhetorik« Russlands an.
Foto: Britta Pedersen

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock und ihr US-Amtskollege Antony Blinken haben die atomaren Drohgebärden Russlands vor den Vereinten Nationen scharf verurteilt.

Russland habe wiederholt »rücksichtslose nukleare Rhetorik« verwendet, mit der es die Bemühungen der letzten 50 Jahre um die Eindämmung von Atomwaffen weltweit aufs Spiel setze, sagte Baerbock bei der UN-Konferenz zur Überprüfung des Atomwaffensperrvertrags. Mit der Ukraine habe Russland ein Land ohne Atomwaffen angegriffen und damit frühere Zusicherungen »brutal verletzt«.

Blinken warf Russland »gefährliches nukleares Säbelrasseln« vor. »In unserer Welt ist kein Platz für nukleare Abschreckung auf der Grundlage von Gewalt und Einschüchterung oder Erpressung. Wir müssen zusammenstehen, um dies abzulehnen.«

Biden: USA wollen mit Russland verhandeln

US-Präsident Joe Biden erklärte in einer Stellungnahme, seine Regierung sei bereit, »zügig« über einen neuen Rahmen für die Rüstungskontrolle zu verhandeln, der den New-Start-Vertrag nach dessen Auslaufen im Jahr 2026 ersetzen soll. »Aber Verhandlungen erfordern einen willigen Partner, der in gutem Glauben handelt«, betonte Biden. Und Russlands Krieg gegen die Ukraine stelle einen Angriff auf die Grundpfeiler der internationalen Ordnung dar.

Der Abrüstungsvertrag New Start ist das einzig noch verbliebene große Abkommen zur Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland. Kurz vor dessen Auslaufen im Februar 2021 hatten sich Biden und Russlands Präsident Wladimir Putin auf eine Verlängerung geeinigt. Der Vertrag begrenzt die Nukleararsenale beider Länder auf je 800 Trägersysteme und je 1550 einsatzbereite Atomsprengköpfe.

Ukraine wirft Russland »nuklearen Terrorismus« vor

Kiew hat Moskau für indirekte Drohungen zum Einsatz von Atomwaffen im Zuge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine scharf kritisiert. »Die Welt wird Zeuge, wie nuklearer Terrorismus, gesponsert von einem Atomwaffenstaat, Wirklichkeit wird«, sagte der stellvertretende Außenminister Mykola Totschyzkyj in New York. Es bedürfe robuster gemeinsamer Maßnahmen, um eine nukleare Katastrophe zu verhindern. Über ukrainischen Kernkraftwerken müssten Flugverbotszonen eingerichtet werden. Der Aggressor Russland dürfe nicht ungestraft mit dem Einmarsch in die Ukraine davonkommen, nur weil er Atomwaffen besitzt.

Putin beschwichtigt

Russlands Präsident Wladimir Putin beteuerte, dass er nicht vorhabe, einen Atomkrieg vom Zaun zu brechen. »Wir gehen davon aus, dass es in einem Atomkrieg keine Sieger geben kann und er niemals begonnen werden darf«, schrieb er in einem auf der Webseite des Kremls veröffentlichten Grußwort an die Konferenzteilnehmer.

Damit trat er seit Kriegsbeginn wachsenden Befürchtungen entgegen, dass Moskau in der Ukraine womöglich Atomwaffen einsetzen könnte. Putin hatte die russischen Atomstreitkräfte kurz nach dem Angriff auf das Nachbarland in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Nun betonte er, dass Russland seine Verpflichtungen als Gründungsmitglied des Atomwaffensperrvertrags erfülle und auch weiter erfüllen wolle.

UN-Chef warnt vor nuklearer Gefahr

UN-Generalsekretär António Guterres mahnte, die Welt befinde sich in einer »Zeit nuklearer Gefahr, wie es sie seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges nicht mehr gegeben« habe. »Die Menschheit läuft Gefahr, die Lehren zu vergessen, die in den schrecklichen Feuern von Hiroshima und Nagasaki geschmiedet wurden«. Die Welt sei nur ein Missverständnis oder eine Fehlkalkulation von der nuklearen Vernichtung entfernt.

Das mehr als 50 Jahre alte Abkommen über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV), dem 191 Staaten beigetreten sind, bildet die Grundlage für atomare Abrüstung weltweit. Es besagt, dass nur die USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien Atomwaffen besitzen dürfen. Die vier anderen mutmaßlichen Atommächte Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea sind dem Vertrag entweder nicht bei- oder wieder ausgetreten. Ziel des Vertrags ist es, die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern, nukleare Abrüstung voranzutreiben und die friedliche Nutzung von Kernenergie zu fördern.

Alle fünf Jahre ist eine Überprüfung des Erreichten vorgesehen. Die zehnte Überprüfungskonferenz sollte bereits 2020 stattfinden, wurde wegen der Corona-Pandemie aber verschoben, und läuft nun bis zum 26. August. Die atomare Abrüstung war schon vor Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ins Stocken geraten. Jetzt wird die Reduzierung der knapp 13.000 Atomwaffen weltweit noch schwerer.

Abschreckung und Abrüstung

Baerbock machte sich in New York trotzdem für konkrete Abrüstungsschritte stark. Gleichzeitig bekannte sie sich aber zur deutschen Beteiligung an atomarer Abschreckung. »Der brutale Angriffskrieg Russlands macht deutlich, dass Nuklearwaffen leider eine bittere Realität sind«, sagte sie. »Der Einsatz für nukleare Nichtverbreitung und nukleare Abschreckung sind in diesen Zeiten kein Widerspruch.«

Deutschland besitzt selbst keine Atomwaffen. Allerdings sind auf dem Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz nach Expertenschätzungen bis zu 20 US-Atombomben stationiert, die im Ernstfall von Kampfjets der Bundeswehr eingesetzt werden sollen. So beteiligt sich Deutschland an der nuklearen Abschreckung der Nato.

Für Moskau war als Redner bei der Konferenz in New York ursprünglich Vize-Außenminister Sergej Rjabkow angekündigt gewesen - am Montag verschwand Russland aber zunächst ganz von der UN-Rednerliste. Es schien allerdings wahrscheinlich, dass ein Vertreter Moskaus am Dienstag das Wort ergreifen könnte.

Angesichts von Spannungen und stockenden Verhandlungen über das iranische Atomprogramm nahm der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, in seiner Rede auch Teheran in die Pflicht: »Wir brauchen einen Zugang, der der Breite und Tiefe dieses nuklearen Problems angemessen ist«. Nur dann sei die IAEA in der Lage »die notwendigen und glaubwürdigen Zusicherungen zu geben, dass jede Aktivität in der Islamischen Republik Iran friedlichen Zwecken dient.«

Iran zur Wiederaufnahme der Atomverhandlungen bereit

Die Verhandlungen über eine Wiederbelebung des 2015 geschlossenen Abkommens zwischen dem Iran und den sechs Vertragspartnern - China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA - stocken seit März. Der Iran signalisierte am Montag aber seine Bereitschaft zur Wiederaufnahme der Atomverhandlungen. »Wir haben in den letzten Tagen wichtige Botschaften erhalten (...) Es besteht in der Tat schon bald die Möglichkeit für neue Verhandlungen«, sagte Außenamtssprecher Nasser Kanaani in Teheran.

Für Baerbock ist die Atomwaffen-Konferenz der Auftakt einer dreitägigen Nordamerika-Reise. Am Dienstag hält sie in New York eine Grundsatzrede zu den transatlantischen Beziehungen. An der 1933 gegründeten Hochschule New School for Social Research, die in ihren Anfangsjahren Zufluchtsort für vor Nationalsozialismus und Faschismus in Europa geflohene Wissenschaftler war, wird sie am Dienstag außerdem mit Studenten diskutieren.

Die Rede hat den Titel »Den transatlantischen Moment nutzen: Unsere gemeinsame Verantwortung in einer neuen Welt«. Vor ihrer Abreise hatte Baerbock gesagt, dass sie deutlich machen wolle, dass Deutschland, Europa, die Vereinigten Staaten und Kanada heute enger verbunden seien als zu keiner anderen Zeit seit Ende des Kalten Krieges. Das »skrupellose, menschenverachtende Handeln« Russlands biete Europa und Nordamerika als Team Gelegenheit, eine noch stärkere transatlantische Partnerschaft für das 21. Jahrhundert aufzubauen.

Am Abend reist Baerbock nach Kanada weiter. In Montreal wird sie bei ihrem Antrittsbesuch Außenministerin Melanie Joly treffen. Kanada ist Nato-Partner Deutschlands und gehört zur G7 führender demokratischer Wirtschaftsmächte. Deutschland hat derzeit den Vorsitz in dieser Staatengruppe.

© dpa-infocom, dpa:220801-99-236636/19