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Baerbock macht sich Bild von Zerstörung in Charkiw

In einer geheimen Aktion reist Außenministerin Annalena Baerbock in das im September befreite Gebiet Charkiw in der Ostukraine. Sie will damit auch ein Zeichen Richtung Wladimir Putin setzen.

Baerbock und Kuleba
Annalena Baerbock im Gespräch mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba (3.v.r) in Charkiw auf dem Gelände eines den Russen zerstörten Umspannwerkes. Foto: Jörg Blank
Annalena Baerbock im Gespräch mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba (3.v.r) in Charkiw auf dem Gelände eines den Russen zerstörten Umspannwerkes.
Foto: Jörg Blank

Außenministerin Annalena Baerbock hat der Ukraine dauerhaften Beistand gegen Russlands Angriffskrieg und auf dem Weg in die Europäische Union zugesichert. »Wir stehen an eurer Seite, solange ihr uns braucht«, sagte die Grünen-Politikerin nach einem viereinhalbstündigen Besuch in der schwer vom Krieg gezeichneten ostukrainischen Millionenstadt Charkiw nahe der russischen Grenze. »Wir werden alles dafür geben, dass die Kinder in Charkiw, Mariupol, in Kiew wieder an eine gute Zukunft glauben können.«

Baerbock wurde bei dem aus Sicherheitsgründen zunächst geheim gehaltenen Besuch vom ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba und dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, Oleksii Makeiev, begleitet. Sie ist als erstes deutsches Kabinettsmitglied seit Beginn des russischen Angriffskriegs in die Ostukraine und das lange umkämpfte Charkiw gereist. Die nur gut 20 Kilometer von der Grenze zu Russland entfernte Millionenstadt war auch in jüngster Zeit russischen Angriffen ausgesetzt. Immer wieder gibt es Luftalarm, so auch während Baerbocks Besuch.

Baerbock sagte zusätzliche Unterstützung in Höhe von 20 Millionen Euro zur Minenräumung und für Winterhilfe etwa mit Generatoren sowie weitere 20 Millionen Euro für eine bessere Internetversorgung zu. Mit dem Geld zum Ausbau des Satelliten-Internetsystems Starlink könnten 10.000 Bodenstationen finanziert werden. Ein Drittel davon kommt nach Angaben des Auswärtigen Amts auch den ukrainischen Streitkräften zugute. Die Echtzeitkommunikation ermögliche es den Soldaten, sich bei der Verteidigung ihrer Heimat genau zu koordinieren und besser gegen russische Angriffe zu schützen.

Kuleba: Forderung nach Leopard-Panzern keine »fixe Idee«

Baerbock besuchte das Land nur wenige Tage nach der Entscheidung der Bundesregierung zur Lieferung deutscher Schützenpanzer vom Typ Marder, die die Ukraine immer wieder gefordert hatte.

Kuleba drang auf die Lieferung von Leopard-Panzern. »Diese Panzer brauchen wir, um unsere Städte, Dörfer und alles was sich unter russischer Besatzung befindet zu befreien«, sagte er. Das sei keine »fixe Idee« - die deutschen Panzer seien nötig, »um unsere Energieinfrastruktur zu retten, um die Ukrainer vor den Verbrechen zu retten«. Kuleba zeigte sich überzeugt davon, dass Berlin die schweren Kampfpanzer liefern wird. »Je länger diese Entscheidung braucht, umso mehr Menschen werden aufgrund der fehlenden Bewaffnung der ukrainischen Armee sterben«, mahnte er.

Baerbock betont EU-Perspektive der Ukraine

Ihr sei es wichtig, »dass wir auch in diesem Kriegswinter den Platz der Ukraine in unserer europäischen Familie nicht aus dem Blick verlieren«, sagte die Ministerin. Die Bundesregierung wolle konkrete Angebote machen, damit das Land bei der Stärkung des Rechtsstaats, unabhängiger Institutionen, der Korruptionsbekämpfung, sowie bei der Angleichung an die EU-Standards vorankomme.

Weil der Luftraum über der Ukraine nach wie vor gesperrt ist, fuhr Baerbock in der Nacht im Sonderzug von Polen aus zunächst in die Hauptstadt Kiew. Von dort aus nahm sie zusammen mit Kuleba am Morgen den regulären Intercity Express 722 nach Charkiw. Auf der Strecke fahren moderne koreanische Züge, die von der Ukraine für die Fußball-Europameisterschaft 2012 angeschafft worden waren.

Baerbock besichtigte mit Gouverneur Oleh Synjehubow und Bürgermeister Ihor Terechow zunächst ein zerstörtes Umspannwerk. 15 Mal sei dieses schon angegriffen worden, hieß es von ukrainischer Seite. Die Infrastruktur für die Energieversorgung ist Hauptziel der seit Monaten laufenden russischen Raketenangriffe.

Powerbanks für kranke und verletzte Kinder

Im Kinderkrankenhaus Nr. 16 kam die Ministerin mit Patienten und deren Eltern zusammen. Als Geschenke brachte sie unter anderem Malstifte und Powerbanks mit - wegen der russischen Angriffe fällt oft der Strom aus. Eine Ärztin berichtete: »Der Krieg greift auch die Seelen der Kinder an.« Baerbock lobte, hier lebten die mutigsten Menschen der Welt. Das habe sie auch ihren Töchtern gesagt. Sie wolle der Welt zeigen, wie stark die Menschen von Charkiw und vor allem die Kinder seien, diesem Krieg zu trotzen. Baerbocks Töchter sind 7 und 11 Jahre alt.

Die Ministerin ließ sich auch den bei russischen Angriffen schwer beschädigten nordöstlichen Stadtteil Saltiwka zeigen. Angesichts der russischen Attacken auf die Infrastruktur besichtigte sie unter anderem den Wärmeraum einer Schule. In Charkiw herrschen derzeit bis zu zweistellige Minustemperaturen.

Eine der am stärksten beschossenen ukrainischen Städte

Charkiw ist eine der am stärksten vom Krieg betroffenen Städte der Ukraine. Durch Artillerie- und Raketenangriffe sind laut der Stadtverwaltung mehr als 8000 Häuser beschädigt worden. Im Stadtteil Saltiwka hat fast jedes Haus Schäden davon getragen. Doch nach der erfolgreichen Gegenoffensive der Ukrainer kehren die Bewohner auch hierher zurück. Gouverneur Synjehubow zufolge lebten Ende Dezember wieder rund 1,1 Millionen Menschen in der Stadt - das sind fast 80 Prozent der Vorkriegszahl.

Festsetzen konnten sich die Russen im Gebiet Charkiw nie

Die Ukrainer zeigten Baerbock die am zentralen Platz der Freiheit liegende Gebietsverwaltung von Charkiw, die am 1. März von russischen Raketen zerstört worden war. Dabei wurden in der zweitgrößten ukrainischen Stadt 29 Menschen getötet. Direkt nach dem Einmarsch in die Ukraine waren die Russen kurz in Außenbezirke der Stadt vorgedrungen. Sie konnten sich dort aber nicht festsetzen und wurden schnell wieder herausgedrängt. Aus dem Gebiet Charkiw mussten sie sich im September weitgehend zurückziehen - nach einer ukrainischen Offensive, die die Russen hinter den Fluss Oskil drängte.

© dpa-infocom, dpa:230110-99-169703/12