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Armenien bereitet Aufnahme von Landsleuten aus Karabach vor

Nach der Eroberung Berg-Karabachs durch Aserbaidschan ist die Situation in der Südkaukasus-Region unklar. Die Bundesregierung sorgt sich um die Sicherheit und Versorgung der Menschen.

Konflikt in Berg-Karabach
Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan leitet eine Kabinettssitzung. Foto: Tigran Mehrabyan/DPA
Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan leitet eine Kabinettssitzung.
Foto: Tigran Mehrabyan/DPA

Nach der Eroberung des vornehmlich von Armeniern bewohnten Gebiets Berg-Karabach im Südkaukasus durch Aserbaidschan bleibt die Lage in der Konfliktregion angespannt. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) telefonierte am Freitag mit dem armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan. Es sei um die Lage vor Ort und die Frage der akuten humanitären Versorgung der Menschen gegangen, teilte Regierungssprecher Steffen Hebestreit in Berlin mit.

Der Kanzler habe sich gegen militärische Gewalt ausgesprochen und für eine Verhandlungslösung eingesetzt. Für eine nachhaltige Beilegung des Konflikts müssten die Rechte und die Sicherheit der Bevölkerung in Karabach gewährleistet werden. Die transparente humanitäre Versorgung und Sicherheit der Menschen in Karabach obliege nunmehr Aserbaidschan, hieß es. Der Kanzler habe auch die Achtung der territorialen Integrität und Souveränität Armeniens hervorgehoben.

Mögliche Evakuierung

Armenien bereitet sich auf eine mögliche Evakuierung von Armeniern aus dem von Aserbaidschan eroberten Gebiet Berg-Karabach vor. Der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan sagte in Eriwan, 40.000 Plätze seien vorbereitet. Es wäre besser, wenn die Karabach-Armenier in ihren Häusern bleiben könnten, sagte er bei einer Regierungssitzung. Es könne aber sein, dass dies unmöglich werde. »Wenn sich die Lage verschlechtert, wird dieses Problem für jeden von uns auf der Tagesordnung stehen.«

Russischen Angaben zufolge haben die armenischen Kämpfer in Berg-Karabach mit der Abgabe ihrer Waffen begonnen. Im Einklang mit der Waffenruhe-Vereinbarung vom Mittwoch seien unter der Aufsicht russischer Soldaten in der Konfliktregion im Südkaukasus erste Waffen und Militärtechnik abgegeben worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Es habe bislang zwei Verstöße gegen die Feuerpause gegeben, durch die allerdings niemand verletzt worden sei, hieß es weiter.

In Berg-Karabach war die Lage heute weitgehend ruhig. Die Region im Südkaukasus liegt auf dem Gebiet Aserbaidschans, wird aber von ethnischen Armeniern bewohnt. Mit einer Militäraktion am Dienstag und Mittwoch hat Aserbaidschan die Karabach-Streitkräfte zur Aufgabe gezwungen. Durch den Angriff wurden laut armenischen Medien mehr als 200 Menschen getötet und mehr als 400 verletzt. Gestern gab es Gespräche über die Eingliederung der nicht anerkannten Republik in die Strukturen Aserbaidschans, die aber kein Ergebnis brachten.

Vorwürfe im UN-Sicherheitsrat

Die Karabach-Armenier, immer noch mehrere Zehntausend Menschen, befürchten, aus ihrer Heimat vertrieben oder im autoritär geführten Aserbaidschan unterdrückt zu werden. Im UN-Sicherheitsrat in New York warf der armenische Außenminister Ararat Mirzoyan Aserbaidschan ethnische Säuberungen vor. Dessen Außenminister Jeyhun Bayramov wiederum sprach von einem Vorgehen gegen Terroristen in Karabach.

Der außenpolitische Berater des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Aliyev bemühte sich, Ängste der Karabach-Armenier zu zerstreuen. Er habe in Baku Vereinbarungen mit Vertretern des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz IKRK getroffen, schrieb Berater Hikmet Hajiyev im sozialen Netzwerk X (früher Twitter).

Humanitäre Hilfe könne über den Latschin-Korridor und aus der aserbaidschanischen Stadt Agdam nach Karabach gebracht werden. Der Latschin-Korridor ist die seit Monaten von Aserbaidschan gesperrte Straßenverbindung zwischen Berg-Karabach und dem armenischen Mutterland.

Verwundete armenische Soldaten sollten über das Rote Kreuz Hilfe bekommen, schrieb Hajiyev. Die russischen Friedenstruppen vor Ort sollten bei der Bergung von Toten helfen. Wer als armenischer Soldat die Waffen niederlege, dürfe frei abziehen. Wer Karabach verlassen wolle, dürfe dies über den Latschin-Korridor Richtung Armenien tun - wobei dies genau der Gang ins Exil wäre, den die Armenier fürchten.

Scholz spricht mit Paschinjan

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach am Telefon mit Ministerpräsident Paschinjan über die akute humanitäre Versorgung der Menschen, teilte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Freitag in Berlin mit. Der Kanzler habe sich gegen militärische Gewalt ausgesprochen und für eine Verhandlungslösung eingesetzt.

Für eine nachhaltige Konfliktbeilegung müssten die Rechte und die Sicherheit der Bevölkerung in Karabach gewährleistet werden. Die transparente humanitäre Versorgung und Sicherheit der Menschen in Karabach obliege nunmehr Aserbaidschan. Der Kanzler habe auch die Achtung der territorialen Integrität und Souveränität Armeniens hervorgehoben.

Proteste in Eriwan

Armenien ist mit den Landsleuten in Karabach solidarisch. Nach einem verlorenen Krieg 2020 gegen Aserbaidschan will die Führung um Paschinjan aber vermeiden, dass der Konflikt auf sein Land übergreift. In Eriwan gab es heute wie an den Vortagen Proteste gegen die aus Sicht der Demonstranten zu nachgiebige Haltung Paschinjans gegenüber Baku. Es gab nach Medienberichten Dutzende Festnahmen.

Im UN-Sicherheitsrat bekräftigte auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell seine uneingeschränkte Solidarität mit Armenien und kündigte Unterstützung an. »Die EU und ihre Mitgliedsstaaten stehen bereit, um dringend humanitäre Hilfe zu leisten«, sagte er gestern Abend. Aserbaidschan trage die Verantwortung dafür, dass die Rechte und die Sicherheit der Armenier in Karabach uneingeschränkt geachtet würden.

Die EU-Kommission will 500.000 Euro für die vom Konflikt betroffenen Menschen bereitstellen. »Wir beobachten die Lage vor Ort genau und sind bereit, weitere Hilfe zu leisten«, sagte der zuständige Kommissar Janez Lenarčič. Das Geld soll in erster Linie die Grundbedürfnisse der Menschen decken. Die nun angekündigte finanzielle Unterstützung kommt zu den 1,17 Millionen Euro hinzu, die Anfang des Jahres für die Krise in Berg-Karabach bereitgestellt wurden, so die Kommission.

© dpa-infocom, dpa:230919-99-249397/55