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Armee birgt sechs getötete Geiseln - Impfstart in Gaza

Der Fund der Geiseln sorgt in Israel für einen Aufschrei. Die Proteste gegen die Regierung Netanjahu verschärfen sich. Derweil beginnt im Gazastreifen eine riesige Impfaktion.

Nahostkonflikt - Tote Geiseln geborgen
Fünf der sechs toten Geiseln wurden am 7. Oktober vom Nova-Musikfestival in der Negev-Wüste entführt. Foto: Uncredited/DPA
Fünf der sechs toten Geiseln wurden am 7. Oktober vom Nova-Musikfestival in der Negev-Wüste entführt.
Foto: Uncredited/DPA

Überschattet vom Fund sechs getöteter Geiseln im Süden des Gazastreifens ist in dem Palästinensergebiet eine große Impfkampagne gegen das Poliovirus angerollt. Der Fund der Leichen verschärfte die Kritik an Regierungschef Benjamin Netanjahu. Der israelische Gewerkschafts-Dachverband Histadrut rief für Montag zu einem eintägigen Proteststreik auf, von dem auch der internationale Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv betroffen sein soll. 

Einem Armeesprecher zufolge wurden die Geiseln nach erster Einschätzung von der Hamas getötet, kurz bevor die Armee sie erreichte. Ein anderer Armeesprecher nannte zunächst keine Details zu den Umständen ihres Todes, sagte aber, sie seien von Hamas-Terroristen getötet worden. Die Hamas machte dagegen israelisches Bombardement für den Tod der Geiseln verantwortlich.

Auch im besetzten Westjordanland dauerte die Gewalt an: Bei einem mutmaßlich palästinensischen Anschlag nahe Hebron wurden drei Polizisten getötet, zwei Männer und eine Frau. 

Massenimpfung aus Sorge vor Polio-Ausbruch

Nachdem es kürzlich den ersten Fall von Kinderlähmung seit 25 Jahren in dem umkämpften Küstenstreifen gegeben hatte, sollen in den kommenden Tagen nach Angaben der WHO rund 640.000 Kinder gegen das hochansteckende Poliovirus immunisiert werden. Üblicherweise werden zwei Impfdosen im Abstand von vier Wochen verabreicht.

Die Massenimpfung werde von den lokalen Gesundheitsbehörden, dem UN-Kinderhilfswerk Unicef und dem UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA durchgeführt, sagte eine WHO-Sprecherin. Start war am Sonntag im zentralen Gazastreifen. 

Halima Baraka, eine 39-jährige Mutter von vier Kindern, kam am Morgen in eines der Impfzentren in Deir al-Balah. »Ich bin hergekommen, um meine Kinder vor dieser Krankheit zu schützen«, sagte sie und wies auf die beengten Lebensumstände von Binnenflüchtlingen in Zeltlagern hin. »Die Lage ist miserabel, wir haben keine Reinigungsmittel, kein gesundes Essen für unsere Kinder und überall liegt Müll herum.« Krankheiten könnten sich leicht unter den Kindern ausbreiten. 

Auch Sally Saidam aus dem Nuseirat-Flüchtlingsviertel ist gekommen, um vier ihrer sechs Kinder impfen zu lassen. »Wir kämpfen um unser Überleben, nicht nur wegen der ständigen israelischen Bombardements, sondern auch wegen Krankheiten, Hunger und Armut.« Ihre Botschaft an die internationale Gemeinschaft: »Genug mit Tod und Zerstörung, ihr müsst uns dabei helfen, diesen Krieg zu stoppen.«

Begrenzte Kampfpausen sollen Impfkampagne ermöglichen

Während der Impfkampagne, die gut eine Woche dauert und auf andere Teile des Gazastreifens ausgeweitet werden soll, wollte die israelische Armee zeitlich und örtlich begrenzte Kampfpausen einhalten. Netanjahu betonte nach Angaben seines Büros, dass es sich bei den geplanten Kampfunterbrechungen nicht um eine Waffenruhe im klassischen Sinne handeln solle. 

Nahostkonflikt - Deir al-Balah
In den kommenden Tagen sollen 640.000 Kinder unter zehn Jahren gegen das hochansteckende Poliovirus geimpft werden. Foto: Abed Rahim Khatib/DPA
In den kommenden Tagen sollen 640.000 Kinder unter zehn Jahren gegen das hochansteckende Poliovirus geimpft werden.
Foto: Abed Rahim Khatib/DPA

Kurz vor Beginn der Impfaktion hatte die israelische Armee den Fund sechs toter Geiseln bekanntgegeben. Netanjahu warf der Hamas vor, Bemühungen um eine Waffenruhe systematisch zu torpedieren. »Wer Geiseln ermordet, will keinen Deal«, sagte er in einer Videobotschaft. Die Hamas habe mehrere US-Vorschläge zurückgewiesen, während Israel diesen zugestimmt habe. Kritiker in Israel werfen dagegen Netanjahu vor, er untergrabe die Bemühungen um eine Waffenruhe selbst aus innenpolitischen und persönlichen Erwägungen.

Vom Nova-Musikfestival in den Gazastreifen verschleppt

Bei den toten Geiseln handelt es sich um vier Männer - Hersh Goldberg-Polin (23), Alexander Lobanov (32), Almog Sarusi (27) und Ori Danino (25) - sowie zwei Frauen - Carmel Gat (40) und Eden Jeruschalmi (24). Dem Forum der Angehörigen der Entführten zufolge waren fünf von ihnen am 7. Oktober vom Nova-Musikfestival in der Negev-Wüste nahe des Gazastreifens entführt worden. 

Die sechs Leichen seien in einem unterirdischen Tunnel im Gebiet Rafah im Süden des umkämpften Gazastreifens gefunden und nach Israel überführt worden, teilte die Armee mit. »Nach unserer ersten Einschätzung wurden sie von Hamas-Terroristen brutal ermordet, kurz bevor wir sie erreichten«, sagte der israelische Armeesprecher Daniel Hagari. Ein Hamas-Sprecher teilte dagegen mit, die Geiseln seien bei israelischem Bombardement getötet worden.

Ein anderer Armeesprecher machte zunächst keine Angaben zum genauen Zeitpunkt und den Umständen ihres Todes. Sie seien von Hamas-Terroristen getötet worden, die Untersuchungen dauerten aber noch an. In etwa einem Kilometer Entfernung sei am Dienstag eine 52-jährige Geisel lebend aus einem Tunnel befreit worden. »Wir hatten keine spezifischen Geheimdienstinformationen über ihren Aufenthaltsort«, sagte er über die Geiseln und sprach von »allgemeinen Informationen, dass Geiseln in dem Gebiet festgehalten werden«.

»Ich liebe dich, bleib stark, überlebe!«

Die Eltern von Goldberg-Polin, der auch US-Staatsbürger ist, hatten sich unermüdlich für seine Freilassung eingesetzt. Erst im vergangenen Monat rührten sie die Teilnehmer eines Parteitags der US-Demokraten mit der Geschichte ihres Sohnes, der bei der Entführung einen Arm verloren hatte, zu Tränen. Am Donnerstag nahmen sie gemeinsam mit anderen Geisel-Angehörigen an einem Protest an der Gaza-Grenze teil. "Hersh, hier ist Mama", rief Rachel Goldberg-Polin mit einem Megafon in den Gazastreifen. »Ich liebe dich, bleib stark, überlebe!«

Nahostkonflikt - Tote Geiseln im Gazastreifen geborgen
Beim Parteitag der US-Demokraten rührten die Eltern von Hersh Goldberg-Polin die Anwesenden zu Tränen. (Archivbild) Foto: J. Scott Applewhite/DPA
Beim Parteitag der US-Demokraten rührten die Eltern von Hersh Goldberg-Polin die Anwesenden zu Tränen. (Archivbild)
Foto: J. Scott Applewhite/DPA

Der deutsche Botschafter in Israel, Steffen Seibert, schrieb auf X: »Wir alle wachen auf mit der schrecklichen Nachricht, dass sechs weitere tote Geiseln gefunden wurden, die von der Hamas getötet wurden.« Namentlich nannte Seibert die Geisel Carmel Gat. Seit dem Überfall der Hamas auf Israel habe sich die deutsche Botschaft an der Seite der Familie für ihre Freilassung eingesetzt. Das Auswärtige Amt bestätigte auf Anfrage nicht, ob Carmel Gat die deutsche Staatsbürgerschaft hatte.

Der Angehörige einer weiterhin vermissten Geisel sagte dem israelischen TV-Sender Channel 13: »Wenn wir warten, bis wir auch den letzten Hamas-Kämpfer gefangen haben, werden keine lebenden Geiseln mehr übrig bleiben, die man retten könnte.« Der Fund der Leichen sei ein trauriger Beweis dafür. »Netanjahu kann einen Deal zu ihrer Befreiung erzielen. Natürlich ist es die Hamas, die die Geiseln entführt und ermordet hat, daran hat niemand einen Zweifel, aber der Regierungschef kann sie retten - aber er tut es nicht, er lässt sie im Stich.«

In Tel Aviv und anderen Orten demonstrierten am Samstagabend Tausende für ein Abkommen zur Freilassung der Entführten aus der Gewalt der islamistischen Hamas.

Nahostkonflikt - Tel Aviv
Auf Protestkundgebungen wird Israels Regierungschef Netanjahu vorgeworfen, die Geiseln in Gaza im Stich zu lassen. Foto: Ohad Zwigenberg/DPA
Auf Protestkundgebungen wird Israels Regierungschef Netanjahu vorgeworfen, die Geiseln in Gaza im Stich zu lassen.
Foto: Ohad Zwigenberg/DPA

Insgesamt verschleppten Terroristen der Hamas und anderer Gruppen während des Massakers am 7. Oktober mehr als 250 Menschen aus Israel in das abgeriegelte Küstengebiet. Wie viele der 101 in Gaza verbliebenen Geiseln noch am Leben sind, ist nicht bekannt.

Seit Kriegsbeginn ist die Zahl der getöteten Palästinenser in dem Küstenstreifen auf mehr als 40.700 gestiegen, wie die Behörden in Gaza melden. Die Zahl unterscheidet nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten und lässt sich kaum überprüfen.

© dpa-infocom, dpa:240901-930-219251/7