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Appell an das Herz Amerikas: Sanfte Töne Selenskyjs

Ein Wort sagt Wolodymyr Selenskyj bei diesem Besuch in den USA besonders oft: Danke. Der Ukrainer sagt Danke im Weißen Haus, im Senat, im Repräsentantenhaus - und in einer Rede an die Menschen im Land.

Olena Selenska  und Wolodymyr Selenskyj
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und seine Frau Olena Selenska sprechen im Gebäude des Nationalarchivs in Washington. Foto: Stephanie Scarbrough/DPA
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und seine Frau Olena Selenska sprechen im Gebäude des Nationalarchivs in Washington.
Foto: Stephanie Scarbrough/DPA

Wolodymyr Selenskyj steht neben seiner Frau Olena in einem großen Kuppelsaal im Nationalarchiv in Washington. Der ukrainische Präsident wie üblich im olivgrünem Militärhemd, seine Frau in heller Bluse mit hochgesteckten Haaren. Die beiden treten abwechselnd ans Mikrofon und sprechen zu den geladenen Gästen, vor allem aber zum amerikanischen Volk. Ihre zentrale Botschaft: Danke.

»Es gibt keine einzige Seele in der Ukraine, die nicht Dankbarkeit empfindet gegenüber Ihnen, Amerika«, sagt Selenskyj. »Gegenüber Ihnen, die uns helfen - nicht, weil Sie es müssen, sondern weil Ihr Herz es nicht anders zulässt.« Der 45-Jährige schiebt nach: »Das ist Menschlichkeit.« Das sei das, was Amerika und die Ukraine ausmache.

Selenskyj dankt den USA

Das Nationalarchiv liegt auf halber Strecke zwischen dem Weißen Haus und dem Kongress - jenen beiden Orten, an denen Selenskyj den Tag über von einem Treffen zum nächsten eilte, um weitere Unterstützung für sein Land zu sichern. Genau in der Mitte versucht der Ukrainer nun, nicht die Politiker, sondern die Menschen im Land anzusprechen.

Im Saal sind ukrainische Jugendliche, deren Kriegsverletzungen in den USA behandelt werden, Ärzte, die in US-Krankenhäusern verwundete Ukrainer versorgen, Aktivisten und andere Menschen, die Spendenaktionen für die Ukraine angestoßen haben. Einzeln ruft Selenskyj die Helfer auf die Bühne, ehrt sie und spricht immer wieder von seiner Dankbarkeit und von den großen Herzen der Amerikaner. »Wenn Amerika nicht solche Menschen hätte, gäbe es keine Freiheit mehr auf der Welt«, sagt er. »Ich danke jedem, jedem Amerikaner, jedem in der Welt, der hilft - für jedes gerettete Leben in der Ukraine.«

Olena Selenska sagt, nie zuvor habe ihr Land so viel Grund gehabt, dankbar zu sein. Zwischendurch holt sie mehrfach tief Luft, scheint nervös. Auch Selenskyj wirkt nachdenklicher, zurückgenommener als üblich. An diesem Abend spricht nicht der kämpferische Kriegspräsident, sondern ein fast demütiger Staatschef. Selenskyj scheint sich schmerzhaft bewusst zu sein, dass es sehr viel schwieriger geworden ist, Menschen in den USA und anderswo auf der Welt davon zu überzeugen, dass sie im großen Stil Geld in einen Krieg pumpen sollen, dessen Ende nicht ansatzweise in Sicht ist.

Skepsis bei den Republikanern

Ende des vergangenen Jahres war Selenskyj zuletzt zu Besuch in der US-Hauptstadt. Kurz vor Weihnachten wurde er damals wie ein Held empfangen, sprach unter dem Jubel von Parlamentariern vor beiden Kammern des US-Kongresses und nahm ein gewaltiges Militärpaket im Umfang von 1,85 Milliarden US-Dollar (1,73 Milliarden Euro) mit nach Hause. Neun Monate später hat sich einige Kriegsmüdigkeit breit gemacht. Diesmal verwehren ihm die Republikaner, die inzwischen das Sagen im US-Repräsentantenhaus haben, eine große Rede im Parlament. Und die neue Militärhilfe, die ihm die US-Regierung bei diesem Besuch zusagt, entspricht nur einem Bruchteil jenes Pakets, das er damals mitnahm.

In Teilen der Republikanischen Partei herrscht beträchtliche Skepsis, ob weiter Unmengen amerikanischen Steuergelds in die Abwehr der russischen Invasion fließen sollten. Fast 44 Milliarden Dollar haben die USA seit Kriegsbeginn allein an Militärhilfen für Kiew bereitgestellt - mehr als jedes andere Land. Zwar steht die Mehrheit der Republikaner im Kongress hinter weiterer Unterstützung für die Ukraine. Vor allem rechte Hardliner sind aber dagegen. »Ich werde nicht unterstützen, dass auch nur ein einziger weiterer Cent an die Ukraine geht«, erklärte etwa der republikanische Senator Roger Marshall kurz vor Selenskyjs Besuch - und kündigte an, einen Termin mit dem ukrainischen Präsidenten im Kongress zu boykottieren.

Auch andere Republikaner beklagten sich in den vergangenen Tagen, dass Amerika nicht länger mit offenem Ende das Scheckbuch für Kiew zücken dürfe. Es ist Wahlkampf in den USA, und mit jedem Tag, an dem die nächste Präsidentenwahl im November 2024 näher rückt, dürften populistische Botschaften dieser Art zunehmen.

Und so eilt Selenskyj bei seinem Besuch in Washington von einem Termin zum nächsten: im Senat, im Repräsentantenhaus, im Verteidigungsministerium, im Weißen Haus. Der demokratische Präsident Joe Biden sagt der Ukraine weitere Unterstützung zu und bemüht sich um Zuspruch: »Das amerikanische Volk, Demokraten und Republikaner gleichermaßen, Familien in unserem ganzen Land, verstehen, wofür die Ukraine kämpft«, sagt er. Den neuen Wunsch nach Raketen vom Typ ATACMS erfüllt er seinem ukrainischen Amtskollegen vorerst aber nicht.

Treffen hinter verschlossenen Türen

Und im Kongress hat Selenskyj viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Hinter verschlossenen Türen erläutert er Senatoren und Abgeordneten die Lage auf dem Schlachtfeld. Auch dort äußert er Dankbarkeit, wie Kongressmitglieder nach den Treffen berichten. Aber er macht auch dramatische Ansagen. Selenskyj habe eine »kraftvolle Botschaft« dabei gehabt, schreibt etwa der demokratische Senator Richard Blumenthal nach dem Treffen auf der Plattform X. So habe der Ukrainer den Senatoren gesagt: »Sie haben Geld gegeben, wir haben Leben gegeben.«

In den ersten Monaten des Krieges trat die ukrainische Regierung zum Teil sehr forsch auf und bat nach der Zusage des einen Waffensystems aus dem Westen umgehend um das nächste. Die US-Regierung verteidigte das fordernde Auftreten anfangs stets mit den Worten, wer mitten im Krieg sei und um seine Existenz kämpfe, könne aus eigener Sicht nie genügend Waffen und Munition haben. Doch inzwischen macht auch sie deutlich, dass die Milliarden-Unterstützung für die Ukraine viel kommunikative Begleithilfe braucht, um Bürger und Wähler nicht zu verprellen.

Im Juli reagierte Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan am Rande des Nato-Gipfels in Vilnius gereizt auf Kritik einer ukrainischen Aktivistin, die beklagte, dass ihr Land nicht in das Militärbündnis aufgenommen werde. Das amerikanische Volk bemühe sich nach Kräften, der Ukraine beizustehen, hielt Sullivan dagegen. »Und ich denke, das amerikanische Volk verdient eine gewisse Dankbarkeit.«

Die Botschaft ist angekommen. Dutzende Male sagt Selenskyj bei seinem Kurzbesuch in der US-Hauptstadt Danke. Und auch bei seinem Auftritt im Nationalarchiv schließt er mit diesen Worten: »Danke für alles. Danke für Ihre Unterstützung. Die Ukraine wird das nie vergessen.« Noch am gleichen Abend reist er weiter nach Kanada, um auch dort für Unterstützung zu werben.

© dpa-infocom, dpa:230922-99-288888/5