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Anschlag in Hanau: »Kein Vergeben - kein Vergessen«

Vor zwei Jahren erschoss ein Deutscher in Hanau neun Menschen bei einem rassistischen Anschlag. Bei der Gedenkstunde gibt es Appelle gegen Rechts - aber auch Kritik von Angehörigen.

Gedenken an die Opfer von Hanau
Mit Plakaten und Bildern der Ermordeten erinnern Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung auf dem Marktplatz von Hanau an die Opfer der Anschläge von Hanau. Foto: Boris Roessler
Mit Plakaten und Bildern der Ermordeten erinnern Teilnehmer einer Gedenkveranstaltung auf dem Marktplatz von Hanau an die Opfer der Anschläge von Hanau.
Foto: Boris Roessler

»Kein Vergeben - kein Vergessen«: Mit Aufrufen zu einem entschiedenen Kampf gegen Rassismus, Hass und Hetze ist am gestrigen Samstag der neun Opfer des rassistischen Anschlags in Hanau gedacht worden.

»Dieser Anschlag kam nicht aus dem Nichts. Und er geschah auch alles andere als zufällig«, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bei der zentralen Gedenkveranstaltung auf dem Hanauer Hauptfriedhof. Nährboden sei »ein Klima der Menschenverachtung, das gewaltbereite Extremisten anstachelt und im schlimmsten Fall zur Tat schreiten lässt«.

In der Hanauer Innenstadt kamen nach Polizeiangaben rund 1000 Menschen zu einer Kundgebung zusammen, um an die Opfer zu erinnern und Konsequenzen zu fordern. Auch in vielen anderen deutschen Städten gab es Gedenkveranstaltungen.

Bundeskanzler Olaf Scholz, der am Wochenende an der Münchner Sicherheitskonferenz teilnahm, erinnerte in einer auf Twitter verbreiteten Videobotschaft namentlich an die Opfer. »Fatih, Ferhat, Gökhan, Hamza, Kaloyan, Mercedes, Sedat, Said Nesar, Vili Viorel. Ihr wart ein Teil unseres Landes, ein Teil von uns«, sagte der SPD-Politiker. »Euch, euren Familien und Freunden schulden wir Antworten auf die Fragen, die bis heute offen sind«, sagte der Kanzler an die Opfer gerichtet. Er versprach, die Bundesregierung werde »Rassismus und rechten Terror entschlossen bekämpfen«.

Ein 43-jähriger Deutscher hatte am 19. Februar 2020 in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven ermordet. Danach tötete der psychisch kranke Rechtsextremist seine Mutter und nahm sich selbst das Leben. Mit der Aufarbeitung der Tat befasst sich ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags, der vor allem der Frage nachgeht, ob es vor, während oder nach dem Anschlag zu einem Behördenversagen kam.

Kritik von Hinterbliebenen

Faeser erinnerte gemeinsam mit Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), dem Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) sowie weiteren Vertretern aus Politik und von Religionsgemeinschaften an die Anschlagsopfer und sicherte den Hinterbliebenen ihre Unterstützung zu. Auf dem Hanauer Hauptfriedhof sind drei der neun Opfer des Anschlags beerdigt. Für die weiteren sechs Todesopfer sind Gedenksteine und eine große gemeinsame Gedenktafel platziert. Faeser, Bouffier und Kaminsky legten an der Grabstätte Kränze und Blumengestecke nieder.

Bouffier sagte, Rassismus sei ein Gift, das manchmal unbedacht, manchmal schleichend und immer öfter auch ganz offen zutage trete. »Wir müssen deshalb wachsam sein, wir dürfen nicht gleichgültig bleiben. Wir müssen Rassisten widersprechen und schon gar kein Verständnis zeigen.«

Bei der Gedenkstunde wurden auch Kritik aus dem Kreis der Hinterbliebenen sowie Forderungen nach unbürokratischen Hilfen laut. Seit langem bemängeln sie eine schleppende Aufklärung des Anschlags und fordern politische Konsequenzen. Emis Gürbüz, deren Sohn bei dem Anschlag ermordet wurde, kritisierte, das Land Hessen habe mit der Gedenkstunde, zu der nur 100 geladene Gäste zugelassen waren, das »Gedenken vereinnahmt«. Die Angehörigen hätten nicht über die Teilnehmer entscheiden können. Noch immer würden die Wünsche der Familien ignoriert. »Die nehmen alles weg von uns, wer gibt ihnen dieses Recht?«, fragte sie. »Ich gebe dieses Recht nicht. Ich will mein Kind wieder zurück haben.«

Gürbis ließ zusammen mit anderen bei einer Demonstration an einem der Tatorte am Heumarkt eine weiße Taube aufsteigen. »Wir werden die neun Kinder nicht vergessen lassen, wir werden immer, immer erinnern«, sagte sie, als der Demonstrationszug an dem Ort pausierte, an dem ihr Sohn erschossen worden war. Laut Polizei nahmen rund 1000 Menschen an der Demonstration teil.

Faeser: Verlorenes Vertrauen in Staat

Faeser erklärte, es seien noch viele Fragen zu der Tat offen, die in dem Untersuchungsausschuss geklärt werden müssten. Hier gehe es auch um die von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Gedenken zum ersten Jahrestag des Anschlags vor einem Jahr angesprochene »Bringschuld des Staates«, so Faeser. »Nur wenn diese erfüllt wird, kann verlorenes Vertrauen in unseren Staat wieder wachsen.«

Eine Spur des rechten Terrors ziehe sich durch die jüngere deutsche Geschichte - vom »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) über den Mord an Walter Lübcke bis hin zum Terror von Halle und Hanau, so die Innenministerin. Täglich würden im Schnitt drei rechte Gewalttaten in Deutschland begangen, und viele Menschen seien Tag für Tag von Rassismus betroffen. Geistige Brandstifter schürten Hass. »Diese Hetzer wissen, was sie tun. Und wir müssen sie aufhalten und zur Verantwortung ziehen.«

Der Kampf gegen Rechtsextremismus sei aber nicht nur Aufgabe von Polizei, Justiz und Sicherheitsbehörden, sagte Faeser. »Es ist auch eine Aufgabe für uns als ganze Gesellschaft. Nur so können wir tief verwurzelter Menschenfeindlichkeit begegnen.« Deshalb wolle sie politische Bildung und demokratisches Engagement »massiv stärken«.

Faeser will rechtsextreme Strömungen in Deutschland künftig möglichst frühzeitig bekämpfen. Der Kampf gegen Rechtsextremismus fange mit guter Bildungsarbeit an: »Er muss schon im Kindergarten ansetzen.«

Kinder und Jugendliche müssten so stark gemacht werden, »dass sie für Ideologien der Ausgrenzung gar nicht erst anfällig werden«, sagte Faeser. »Wir brauchen eine Demokratieerziehung, die klarmacht, dass es egal ist, wo eine Familie irgendwann einmal hergekommen ist, welche Hautfarbe jemand hat, an wen er glaubt oder wen er liebt.«

Hanaus OB: Terrornacht »tiefe Wunde«

Hanaus Oberbürgermeister Kaminsky erklärte, die Terrornacht des 19. Februar 2020 sei eine tiefe Wunde, die nie ganz verschwinden werde. Wann immer man diese Wunde berühre, sich an das Geschehene erinnere, schmerze sie erneut. »Aber diese Berührung, dieses Erinnern ist wichtig. Es schützt uns davor zu vergessen und mahnt uns so zu ständigem Handeln. Gegen Rassismus, gegen Diskriminierung, gegen Hass und gegen die Verletzung der Menschenwürde«, so Kaminsky.

Mustafa Macit Bozkurt, Imam des Islamischen Vereins e. V. in Hanau, bezeichnete die Grabstätte für die Opfer als »ein Mahnmal, um unsere Mitmenschen und die kommenden Generationen zu ermahnen und daran zu erinnern, wohin Rassismus führen kann«. »Wir gedenken heute, um hoffnungsvoll in die Zukunft blicken zu können und die Vielfalt in unserer Gesellschaft als Bereicherung zu verstehen«, so Bozkurt.

Auf dem Hanauer Marktplatz hielten am gestrigen Nachmittag die Teilnehmer der Kundgebung Schilder hoch mit den Gesichtern der Getöteten. Çetin Gültekin, dessen Bruder Gökhan zu den neun Opfern des Anschlags gehörte, sagte, die Hinterbliebenen stellten sich dem Rassismus entgegen, wo immer dies möglich sei, »dem Rassismus, der tötet und uns unsere Liebsten genommen hat«, sagte Gültekin. Zugleich forderte er ein schärferes Waffenrecht, ein zentrales Mahnmal für die Anschlagsopfer auf dem Marktplatz und unbürokratische Hilfen für die Angehörigen. Serpil Temiz Unvar, die bei dem Anschlag ihren Sohn Ferhat verlor, sagte: »Dieses Mal weinen wir nicht. Wir kämpfen für unsere Rechte.«

© dpa-infocom, dpa:220219-99-199251/16