Mit einem gezielten Drohnenangriff in Afghanistan haben die USA den Anführer des Terrornetzwerks Al-Kaida, Aiman al-Sawahiri, getötet. US-Präsident Joe Biden verkündete am Montag in Washington, der Nachfolger von Osama bin Laden sei am Wochenende bei einem »Präzisionsschlag« in der afghanischen Hauptstadt Kabul ums Leben gekommen. Zivile Opfer habe es nicht gegeben. »Jetzt wurde der Gerechtigkeit Genüge getan. Und diesen Terroristenführer gibt es nicht mehr«, sagte Biden.
Der 71 Jahre alte Al-Sawahiri war Nachfolger von Osama bin Laden, dem Kopf der Terroranschläge vom 11. September 2001 mit annähernd 3000 Toten in den USA. Nach Bin Ladens Tötung durch eine amerikanische Spezialeinheit in Pakistan 2011 rückte der Ägypter an die Spitze. Allerdings gelang es ihm nie, unter den Dschihadisten das Ansehen seines Vorgängers zu erreichen. Al-Sawahiris Videos zeichneten sich durch spröde und längliche Vorträge aus.
Bei seiner Ansprache auf dem Balkon des Weißen Hauses bezeichnete Biden Al-Sawahiri als Drahtzieher von Anschlägen auf US-Amerikaner über Jahrzehnte hinweg. Auch beim Angriff auf das Kriegsschiff »USS Cole« im Jahr 2000, bei den 17 US-Soldaten getötet wurden, habe er eine Schlüsselrolle gehabt. Er habe auch die Anschläge 1998 auf US-Botschaften in Kenia und Tansania geplant, bei denen mehr als 200 Menschen getötet wurden. Der gelernte Arzt aus Kairo trug den Spitznamen »Terror-Doktor«.
Eine ranghohe Vertreterin der US-Regierung sagte, der Angriff auf Al-Sawahiri sei über Monate vorbereitet worden. Im Laufe des Jahres hätten die US-Behörden erfahren, dass Al-Sawahiris Ehefrau, die Tochter und deren Kinder in ein Haus in der Kabuler Innenstadt gezogen seien. Dort sei schließlich auch der Terroristenführer aufgespürt worden. Er sei am Sonntag um 6.18 Uhr Ortszeit getötet worden, als er auf den Balkon des Hauses getreten sei. Eine Drohne habe zwei Hellfire-Raketen abgeschossen. Keiner von Al-Sawahiris Familienangehörigen sei verletzt worden.
»Mit großer Zuversicht« keine Zivilisten zu Schaden gekommen
Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, sagte am Dienstag im Sender CNN, man könne »mit großer Zuversicht« sagen, dass keine Zivilisten zu Schaden gekommen seien. Die Taliban hätten Al-Sawahiris Familie inzwischen an einen anderen Ort gebracht. »Das Haus ist jetzt leer.« Von dem Schlag der USA gehe auch eine Botschaft an andere Terroristen aus: dass Afghanistan kein sicherer Zufluchtsort für sie sei.
Die Taliban verurteilten den Angriff, ohne Al-Sawahiri beim Namen zu nennen oder seine Tötung zu erwähnen. Dies sei ein klarer Verstoß gegen »internationale Prinzipien und das Doha-Abkommen«. In Doha hatten die Taliban und die USA 2020 den Rückzug aller internationalen Truppen aus Afghanistan vereinbart. Als Gegenleistung sagten die Taliban zu, Terrorgruppen keinen Rückzugsort zu bieten. Nach US-Erkenntnissen wussten Mitglieder der aktuellen Taliban-Führung jedoch, dass sich der Al-Kaida-Chef in Kabul aufhielt.
Die USA warfen den Taliban daher vor, das Doha-Abkommen missachtet zu haben. Man habe ihnen auf verschiedenen Kanälen »sehr deutlich gemacht, dass dies ein Verstoß war«, sagte Kirby. Die Taliban hätten sich verpflichtet, dass von Afghanistan aus keine Angriffe gegen die USA ausgingen. Al-Sawahiri habe aus Kabul seine Anhänger »aktiv ermutigt«, Angriffe gegen US-Interessen zu planen und auszuführen. Seine Tötung sei daher auch eine Botschaft an die Taliban.
USA setzten Kopfgeld von 25 Millionen Dollar auf Al-Sawahiri
Die US-Bundespolizei FBI versah das Fahndungsplakat Al-Sawahiris auf der Internetseite mit den meistgesuchten Terroristen mit einem roten Balken und der Aufschrift »Verstorben« (»Deceased«). Die USA hatten ein Kopfgeld von 25 Millionen Dollar (rund 24,4 Millionen Euro) auf ihn ausgesetzt. Seine Tötung kam nun überraschend - kurz vor dem ersten Jahrestag des Abzugs aller internationalen Truppen aus Afghanistan. Nach Angaben der US-Regierung waren für den Schlag gegen Al-Sawahiri keine amerikanischen Kräfte in Kabul.
Die USA hatten Ende August 2021 all ihre Soldaten aus Afghanistan abgezogen und damit den internationalen Militäreinsatz nach fast 20 Jahren beendet. Die Taliban hatten schon kurz zuvor wieder die Macht übernommen. Der internationale Abzug gestaltete sich chaotisch. Die USA sahen sich viel Kritik und Unverständnis ausgesetzt. Biden versprach damals, den Kampf gegen den Terrorismus in der Region nicht aufzugeben.
Der US-Präsident wertete Al-Sawahiris Tod nun als Beleg dafür, dass es auch ohne Tausende Soldaten auf afghanischem Boden möglich sei, Amerika vor Terroristen zu schützen. Der Schlag sei auch eine Botschaft an andere: »Egal, wie lange es dauert, egal, wo ihr euch versteckt: Wenn ihr eine Bedrohung für unser Volk seid, werden die Vereinigten Staaten euch finden und ausschalten.«
Die Tatsache, dass sich Al-Sawahiri in Afghanistan versteckte, wirft zugleich unangenehme Fragen dazu auf, was der dortige Krieg gegen den Terror gebracht hat: ein 20 Jahre langer Militäreinsatz, der Unsummen verschlang und Zehntausende das Leben kostete - und der begann, weil das Land Al-Kaida-Terroristen Unterschlupf gewährt hatte.
Letzter öffentlicher Auftritt im September 2021
Einen seiner letzten öffentlichen Auftritte hatte Al-Sawahiri im vergangenen September - genau 20 Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. In einer Videobotschaft rief er damals dazu auf, westliche Staaten und deren Verbündete im Nahen Osten zu bekämpfen. In den Jahren davor hatte es unbestätigte Gerüchte über seinen Tod gegeben. Experten hatten zuletzt vermutet, dass sich Al-Sawahiri im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Pakistan versteckt.
Der UN-Sicherheitsrat hat immer wieder über enge Beziehungen zwischen Al-Kaida und den Taliban berichtet. Al-Kaida musste in den vergangenen Jahren Rückschläge einstecken. Experten argumentierten jedoch, dass ihr Fokus auf globalen Terror weiter Gefahrenpotenzial habe. Beobachter sahen den Rückzug der westlichen Streitkräfte aus Afghanistan mit großer Sorge und warnten davor, dass die Gruppe unter der Duldung der Taliban zu neuer Stärke kommen könnte. Wer nun die Führung Al-Kaidas übernehmen könnte, ist unklar.
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