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AKW Saporischschja: Wie gefährlich ist die Lage?

Zum ersten Mal überhaupt wurde das immer wieder beschossene AKW Saporischschja nun vom Netz genommen. Die Angst um eine Atomkatastrophe im größten europäischen Kernkraftwerk nimmt zu.

AKW Saporischschja
Aufsteigender Rauch am 24. August von Bränden im Kernkraftwerk Saporischschja. Foto: Planet Labs PBC
Aufsteigender Rauch am 24. August von Bränden im Kernkraftwerk Saporischschja.
Foto: Planet Labs PBC

Nach einer beispiellosen Notabschaltung ist das von russischen Truppen besetzte südukrainische Atomkraftwerk Saporischschja wieder am Netz. Einer der beiden gestoppten Blöcke des größten Kernkraftwerks in Europa sei wieder an das ukrainische Stromnetz angeschlossen worden, teilte der staatliche Kraftwerksbetreiber Enerhoatom mit. Das hatten am Vortag auch die von Russland eingesetzten Besatzungsbehörden erklärt.

Aber die Spannungen um das AKW wachsen durch permanenten Beschuss weiter - und damit die Angst vor einer Atomkatastrophe. Einige Fragen und Antworten zur Lage und den Gefahren:

Was ist am Donnerstag genau passiert? Und wie ist die Lage jetzt?

Der ukrainischen Atomaufsicht zufolge wurde eine 750-Kilovolt-Hochspannungsleitung vom Wasserkraftwerk in Nowa Kachowka durch russischen Beschuss beschädigt. Dies führte zur Abtrennung der Blöcke fünf und sechs vom Netz. Bei beiden habe danach das Notabschaltungssystem gegriffen, hieß es. Die russischen Besatzungsbehörden bestätigten Probleme mit der Hochspannungsleitung. Ein nicht näher benannter Brand habe zu einem Kurzschluss geführt.

Nach der Notabschaltung der Kraftwerksblöcke fiel demnach der Strom in weiten Teilen der von Russland besetzten Gebiete Cherson und Saporischschja aus. Nach dem Löschen des Brands sei ein Reaktor wieder ans Netz gegangen und an der Inbetriebnahme des zweiten werde gearbeitet, teilten die Besatzer mit. Berichte über Probleme bei der Stromversorgung in ukrainisch kontrollierten Gebieten gab es nicht. Nach Angaben von Enerhoatom ist das AKW an das Energiesystem der Ukraine angeschlossen.

Ist die Sicherheit des AKW trotz der Kämpfe noch gewährleistet?

»Ein sicherer Betrieb sieht anders aus«, sagt AKW-Experte Nikolaus Müllner von der Wiener Universität für Bodenkultur der Deutschen Presse-Agentur. Wenn sich die militärische Lage nicht verbessere, sei es nur eine Frage der Zeit, bis die Anlage einmal schwer beschädigt werde und der Schaden nicht mehr aufgefangen werden könne. »Es ist ein Spiel mit dem Feuer«, sagt er über das aus seiner Sicht verantwortungslose Handeln der russischen und der ukrainischen Streitkräfte.

Laut der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien sind alle Säulen der nuklearen Sicherheit in Saporischschja zumindest angeknackst. Besonders besorgt ist die IAEA darüber, dass die einzig verbliebene von ursprünglich vier Stromleitungen in das Kraftwerk am Donnerstag ausgefallen war. Denn ohne externen Strom verfügt das AKW nur noch über Dieselgeneratoren, um Reaktorkerne zu kühlen. Zwei Leitungen sollen nun wieder in Betrieb sein.

Was ist eine Notabschaltung eines AKW, und wie riskant ist das?

Bei einer Notabschaltung wird die nukleare Kettenreaktion gestoppt und die Temperatur im Reaktor rasch abgesenkt. »Das ist eigentlich kein Problem«, sagt Müllner. Notabschaltungen kämen auch bei anderen AKW immer wieder vor. Solch eine Maßnahme belaste die Systeme der Anlage etwas mehr als eine langsamere Routine-Abschaltung für Wartungszwecke, sei aber nicht gefährlich. Russland und die Ukraine erwarten nun eine IAEA-Mission am Standort in Enerhodar, damit sich die Experten bald ein Bild von der Lage machen.

Was könnte eine IAEA-Mission vor Ort am AKW ausrichten?

IAEA-Chef Rafael Grossi will die Mission persönlich anführen, »um zu helfen, dort die Sicherheit zu stabilisieren«, wie er in seinem jüngsten Lagebericht zur Ukraine schrieb. IAEA-Experten wollen selbst Schäden und Sicherheitssysteme vor Ort untersuchen, weil die Angaben aus Kiew und Moskau dazu oft widersprüchlich sind. Außerdem möchte sich die IAEA ein Bild von den Arbeitsbedingungen der ukrainischen AKW-Mitarbeiter machen, die seit Monaten unter der Kontrolle russischer Besatzer arbeiten. Außerdem wollen IAEA-Inspekteure sicherstellen, dass alles Nuklearmaterial noch an Ort und Stelle ist.

Was steht noch im Weg einer IAEA-Mission?

Es müsse sichergestellt werden, dass das IAEA-Team nicht beschossen wird, wie Grossi diese Woche dem Sender France24 sagte. Sowohl Kiew als auch Moskau haben wiederholt ihre grundsätzliche Unterstützung für die Mission betont; dennoch konnte Grossi noch nicht verkünden, dass er die nötigen Sicherheitszusagen erhalten hat. Außerdem gebe es noch Gespräche darüber, was genau die IAEA in dem AKW tun werde, sagte Grossi.

Was, wenn das Kraftwerk dauerhaft abgeschaltet wird?

Das Hauptproblem ist, die Kühlung der Reaktoren zu erhalten, da die Brennstäbe auch nach dem Abschalten weiter Wärme produzieren. Ukrainischen Angaben zufolge ist die Verbindung zum nahen Wärmekraftwerk intakt. Damit würden die Kühlsysteme mit Strom versorgt. Beim Ausfall der externen Stromversorgung gehen Dieselgeneratoren in Betrieb. Laut Enerhoatom-Chef Petro Kotin sollte Diesel für mindestens zehn Tage vor Ort vorhanden sein. Garantien gebe es aber nicht, weil der Dauerbetrieb der Generatoren nie getestet worden sei.

Der Ausfall der Leistung der beiden Kraftwerksblöcke kann zum derzeitigen Zeitpunkt zum Teil vom ukrainischen System verkraftet werden. Ihre Nettoleistung beträgt 1900 Megawatt. Auch Donnerstag exportierte das Land nach Angaben des Netzbetreibers Ukrenerho über 600 Megawatt Strom in die westlichen Nachbarstaaten. Am Freitag stieg der Export sogar auf 653 Megawatt. Im Winter wird der Strombedarf des Landes jedoch steigen. Der Ausfall des Atomkraftwerks könnte zu Überlastungen des Netzes und damit größeren Stromausfällen führen.

Wie groß ist die atomare Gefahr?

Russland und die Ukraine haben davor gewarnt, dass eine mögliche Atomkatastrophe viel schlimmer werden könnte als die um das 1986 havarierte AKW Tschernobyl. Auf dem Kraftwerksgelände gibt es auch noch ein Zwischenlager. Enerhoatom zufolge sind dies aktuell 174 Container mit jeweils 24 abgebrannten Brennelementen, die unter freiem Himmel lagern. Direkte Artillerietreffer könnten demnach so etwas wie eine »schmutzige Atombombe« erzeugen.

Russland lehnt vor diesem Hintergrund Forderungen der internationalen Gemeinschaft ab, das AKW der Ukraine zu übergeben. Angeführt werden von Moskau Sicherheitsbedenken, dass die Ukraine nicht gewährleisten könne, dass das radioaktive Material nicht in die falschen Hände komme. Bei einer Katastrophe würden besonders auch russische Gebiete massiv verstrahlt.

Was könnte hinter den Problemen um das AKW stecken?

Der staatliche ukrainische Atomkraftwerksbetreiber Enerhoatom hat den russischen Besatzern mehrfach vorgeworfen, einen Anschluss der Gebiete an das russische Stromnetz vorzubereiten. Der Beschuss von Hochspannungsleitungen sei dabei ein Ablenkungsmanöver, um zuerst die besetzten Gebiete stromlos zu machen und sie dann schrittweise mit dem russischen Netz zu synchronisieren. Nach dem Anschluss an das russische Netz würden die Kapazitäten der südukrainischen Kraftwerke dem ukrainischen Netz fehlen und dort massive Probleme mit der Stromversorgung verursachen.

Bisher haben die russischen Besatzer im Juli lediglich die von der Ukraine 2015 gesprengten Hochspannungsleitungen zur Schwarzmeer-Halbinsel Krim repariert. Die von Russland 2014 annektierte Krim wurde später über Unterwasserleitungen an das russische Netz angeschlossen. Nach der Notabschaltung der Reaktoren am Donnerstag deutete zunächst nichts auf eine Synchronisierung mit dem russischen Netz auf der Krim hin.

© dpa-infocom, dpa:220826-99-527535/2