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Aiwanger-Affäre: Vorwürfe, Verteidigung, Ungewisses

Binnen kurzer Zeit hat sich die politische Lage in Bayern dramatisch zugespitzt. Und jeden Tag gibt es in der Flugblatt-Affäre um Hubert Aiwanger neue Fragen und Details. Ein Zwischenstand im Überblick.

Hubert Aiwanger
Bayerns Vize-Regierungschef Hubert Aiwanger sieht sich mit schweren Vorwürfen konfrontiert. Foto: Tobias C. Köhler/DPA
Bayerns Vize-Regierungschef Hubert Aiwanger sieht sich mit schweren Vorwürfen konfrontiert.
Foto: Tobias C. Köhler/DPA

Es ist ein politischer Tsunami, der seit dem Wochenende über Bayern hinweg rollt, vor allem über Hubert Aiwanger und die Freien Wähler, aber auch über Markus Söder und die CSU. Und noch ist ungewiss, wen und was alles die Welle mit sich reißen wird.

Klar ist: Irgendwann in den kommenden Tagen, also gut einen Monat vor der bayerischen Landtagswahl, wird der Ministerpräsident eine politisch heikle Entscheidung treffen müssen: Entlässt er seinen Vize wegen der Affäre um ein antisemitisches Flugblatt aus Schulzeiten - oder nicht?

Viele große und kleine Mosaiksteine aus Vorwürfen und Gegenvorwürfen, aus Verteidigungsversuchen, aus immer neuen Vorhaltungen und vielen Spekulationen setzen sich ganz langsam zu einem Bild zusammen. Eine vorläufige Einordnung und ein Ausblick:

Die ursprünglichen Vorwürfe

Die »Süddeutsche Zeitung« berichtete in ihrer Wochenendausgabe über den Verdacht, dass der Freie-Wähler-Chef zu Schulzeiten in den 1980er Jahren ein antisemitisches Flugblatt geschrieben haben soll. Das wies der heute 52-Jährige schriftlich zurück. Gleichzeitig räumte er aber ein, es seien »ein oder wenige Exemplare« in seiner Schultasche gefunden worden. Kurz darauf gestand Aiwangers älterer Bruder ein, das Pamphlet geschrieben zu haben.

Offen blieb bisher, ob Aiwanger einzelne Exemplare weitergab, das sei ihm »heute nicht mehr erinnerlich«. Sein Bruder meinte, vielleicht habe Hubert die Flugblätter eingesammelt, »um zu deeskalieren«.

Zusätzliche Vorwürfe

Ein ehemaliger Mitschüler Aiwangers sagte der ARD offen und mit Namen, Aiwanger habe als Schüler beim Betreten des schon besetzten Klassenzimmers früher ab und zu »einen Hitlergruß gezeigt«. Zudem habe Aiwanger »sehr oft diese Hitler-Ansprachen nachgemacht in diesem Hitler-Slang«. Auch judenfeindliche Witze seien »definitiv gefallen«. Aiwanger sagte der »Bild« zum Vorwurf mit dem Hitlergruß: »Mir ist nicht im Entferntesten erinnerlich, dass ich so etwas gemacht haben soll.«

Im Online-Netzwerk X (früher Twitter) wehrte er sich zudem gegen den Vorwurf einer nicht namentlich genannten Ex-Mitschülerin in der »Süddeutschen Zeitung«: »Es wird immer absurder. Eine andere Person behauptet, ich hätte Mein Kampf in der Schultasche gehabt. Wer lässt sich solchen Unsinn einfallen!?«

Aiwangers Verteidigung

In seiner schriftlichen Erklärung nannte er das Flugblatt »ekelhaft und menschenverachtend«. »Auch nach 35 Jahren distanziere ich mich vollends von dem Papier.« Am Mittwoch äußerte er sich ausführlicher: Es sei so, »dass vielleicht in der Jugendzeit das eine oder andere so oder so interpretiert werden kann, was als 15-Jähriger hier mir vorgeworfen wird«, sagte er vor Journalisten. »Aber auf alle Fälle, ich sag' seit dem Erwachsenenalter, die letzten Jahrzehnte: kein Antisemit, kein Extremist, sondern ein Menschenfreund.«

Weil dies Raum für neue Spekulationen ließ, schob er später hinterher: »Ich war noch nie Antisemit oder Extremist.« Die Freien Wähler verweisen unterdessen auch darauf, dass Aiwanger »nach den Vorfällen« sogar Schülersprecher an seiner Schule gewesen sei.

Gegenvorwürfe

Die Freien Wähler kritisieren die aktuellen Vorgänge als »Schmutzkampagne«. Aiwanger schrieb auf X/Twitter: »#Schmutzkampagnen gehen am Ende nach hinten los. #Aiwanger«. Aufklärungsforderungen auch von Kanzler Olaf Scholz werden von den Freien Wählern zurückgewiesen: Der SPD-Politiker wolle sich ja nicht einmal an Dinge erinnern können, die nur wenige Jahre zurückliegen.

Wie es weitergeht

Aiwanger hat von Söder 25 Fragen bekommen, die er nun schriftlich und »zeitnah« beantworten soll. Wann dies geschieht, ist zunächst noch offen. Anschließend will Söder eine abschließende Bewertung vornehmen. Die zentrale Entscheidung, die er dann akut treffen muss: Entlässt er Aiwanger als Minister, ja oder nein? Für eine Entlassung bräuchte er anschließend die Zustimmung des Landtags. Klar ist so oder so: Im Landtag wird es am 7. September - auf Antrag von Grünen, SPD und FDP - eine Sondersitzung geben.

Szenarien und mögliche Folgen

Das ist Söders Dilemma: Entlässt er Aiwanger, ist die Koalition kurz vor der Landtagswahl am Ende. Davon könnten die Freien Wähler, so die Sorge der CSU, am Wahltag massiv profitieren. Hält Söder an ihm fest, könnten er und die CSU aber am Ende in Mithaftung genommen werden.

Insgesamt steht Söder derart unter Beobachtung, auch bundesweit, auch vom Zentralrat der Juden und anderen: Vielleicht kann er, um politisch gesichtswahrend aus der Affäre zu kommen, gar nicht mehr anders als Aiwanger zu entlassen? Auch auf die Gefahr hin, am Ende ein paar Prozentpunkte zu verlieren.

© dpa-infocom, dpa:230831-99-20553/7