Richtig zum Feiern zumute ist zum Wochenauftakt nach den Landtagswahlen in Bayern und Hessen nur der AfD: Parteichefin Alice Weidel tritt in Berlin selbstbewusst vor die Mikrofone und spricht von einem »Doppelwumms« für ihre Partei. Sie sieht die AfD nun auch im Westen angekommen.
Bei den Unionsparteien, den eigentlichen Wahlsiegern, wird die Freude am Montag durch nachdenkliche Töne überdeckt. »Unsere Demokratie ist am Zerfasern und Zersplittern«, sagt Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) in München. Dass die AfD im Westen mit neuen Spitzenwerten gestärkt in zwei Landtage einzieht, ist für ihn »kein gutes Zeichen«.
AfD-Rekord in Hessen
In Hessen erreicht die AfD mit 18,4 Prozent das bisher höchste Ergebnis bei Landtagswahlen in einem westdeutschen Bundesland seit ihrem Bestehen 2013 und wird zweitstärkste Kraft. In Bayern verbessert sie sich von 10,2 auf 14,6 Prozent und wird drittstärkste Partei.
In beiden Bundesländern werden SPD, Grüne und FDP dagegen abgestraft. Die Kanzlerpartei SPD fährt ihre jeweils historisch schlechtesten Ergebnisse ein, die FDP fliegt in Bayern aus dem Parlament und in Hessen beinahe, auch die Grünen büßen ein. Das waren nicht »nur« zwei Landtagswahlen, das war ein bitterer Denkzettel für die Ampel-Koalition zur Halbzeit der Wahlperiode.
Ein detaillierter Blick in die Wahlergebnisse (ARD, infratest dimap):
- Die AfD bringt es zum Teil auf Ergebnisse, die man so bisher nur aus ostdeutschen Bundesländern kannte. Beispiel Wahlkreis Wetterau II in Hessen: 27,2 Prozent. Auch in Bayern, wo sich mit den Freien Wählern noch eine weitere Konkurrenzpartei rechts der CSU etabliert hat, kommt die AfD in einigen Wahlkreisen auf über 20 Prozent.
- In Bayern wanderten laut infratest dimap 80.000 Wähler der Ampel-Parteien zur AfD, darunter sogar 20.000 aus dem Grünen-Lager. In Hessen verloren SPD, FDP und Grüne netto mehr als 60.000 Wähler an die AfD. Profitieren konnte die Partei auch deutlich von Wählern, die bei der letzten Landtagswahl gar nicht oder andere Parteien wählten, darunter CDU, Freie Wähler und sogar Linke.
- 80 (Hessen) bis 85 (Bayern) Prozent der AfD-Wähler sagen: »Es ist mir egal, dass sie in Teilen als rechtsextrem gilt, solange sie die richtigen Themen anspricht.«
- Die Wählerschaft der AfD beschränkt sich nicht auf ältere Männer. Besonders stark zulegen konnte sie in der Gruppe der unter 60-Jährigen (bis zu 9 Prozentpunkte mehr) und sogar auch bei den jungen Erwachsenen. »Auffällig ist bei den unter 30-Jährigen jetzt eine - in dieser Altersgruppe - untypisch starke AfD (18 Prozent)«, heißt es etwa in der Wahlanalyse der Forschungsgruppe Wahlen zu den Ergebnissen in Bayern.
- Die Landtagswahlen waren aus Sicht vieler Wähler (Bayern 54 Prozent, Hessen 51 Prozent) eine Gelegenheit, der Bundesregierung einen Denkzettel zu verpassen, mit der sich 69 (Hessen) bis 77 Prozent (Bayern) unzufrieden zeigen.
- Wirtschaft, Klima und Energie und Zuwanderung spielten für die Wahlentscheidung eine große Rolle. 83 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Bayern und 72 Prozent in Hessen sind der Auffassung, es brauche eine andere Asyl- und Flüchtlingspolitik, »damit weniger Menschen kommen«.
Befreiungsschlag oder ruhige Hand: Was macht Scholz?
Stellt sich die Frage, welche Konsequenzen die Ampel-Regierung nun aus dem Wahldesaster zieht, allen voran der Chef: Bundeskanzler Olaf Scholz. Gut möglich, dass er nun das Heft des Handelns bei dem Thema selbst in die Hand nimmt. »Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland streben, ist im Moment zu hoch«, hatte der SPD-Politiker schon vor der Wahl dem Redaktionsnetzwerk Deutschland gesagt.
Die Union dringt auf einen Deutschland-Pakt zwischen Regierung und Opposition zur Eindämmung der irregulären Einwanderung. Scholz sieht eher die Landesregierungschefs als den CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz als seine Gesprächspartner. Mit denen trifft er sich am 6. November in Berlin, um über die Migrationspolitik zu sprechen. Bis dann hat er Zeit, bei dem Thema in die Offensive zu kommen.
Umfragen zeigen auch, dass die Menschen mehr Führungsstärke vom Kanzler erwarten, dass er etwa auch mal schneller und härter durchgreift, wenn die kleineren Koalitionspartner Grüne und FDP sich zoffen. Scholz hat kürzlich noch einmal klargestellt, dass er nicht daran glaubt, dass ein solcher Führungsstil in einer schwierigen Dreier-Koalition funktioniert: »Weil das ist dann so wie jemand, der ununterbrochen mit irgendwas auf den Tisch haut und am Ende sich zum Arzt begeben muss, wegen der Behandlung seiner Faust.«
Angezählt aber nicht k.o.: Faeser bleibt Innenministerin
An seiner Innenministerin Nancy Faeser, die als hessische SPD-Spitzenkandidatin eine krachende Niederlage erlitt und besonders im Bereich Migration gefordert ist, wird Scholz festhalten. »Er ist fest entschlossen, auch weiterhin mit Nancy Faeser als Bundesinnenministerin im Kabinett zusammenzuarbeiten«, stellte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Montag klar. Und Parteichefin Saskia Esken ergänzte, Faeser habe »großartige Arbeit gemacht und mehr erreicht als viele ihrer Vorgänger«.
Streit oder Disziplin: Was macht das Fiasko mit der Ampel?
Bleibt die Frage, was das Fiasko nun mit der Ampel macht? Die FDP hat schon bei früheren Wahlschlappen Krach in der Koalition angefangen - ohne dass ihr das bei den nächsten Wahlen oder bei Umfragen auf Bundesebene geholfen hat. Parteichef Christian Lindner forderte am Montag nun eine Art Inventur der Regierungsarbeit. Der Auftrag sei es nun, die Regierungsarbeit kritisch zu prüfen. Insgesamt müsse man feststellen, dass die Koalition den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger nicht entspreche. Das gelte für die Bereiche Wirtschaft, Migration, Energiepolitik und gesellschaftliche Liberalität.
Die Grünen sehen keine Veranlassung für eine inhaltliche Kurskorrektur. Ändern müsse sich allerdings der Stil der Ampel-Regierung, die - anstatt ihre gemeinsamen Erfolge ins Schaufenster zu stellen - in der Öffentlichkeit oft als zerstritten wahrgenommen werde, sagte der Parteivorsitzende Omid Nouripour in Berlin. Eine erste Gelegenheit für eine kritische Bestandsaufnahme könne der seit längerem geplante Koalitionsausschuss am 20. Oktober sein.
Ein entscheidendes halbes Jahr ohne Wahlkampf
Viel Zeit bleibt der Ampel jedenfalls nicht mehr, um noch Großes bei den Topthemen Migration, Entbürokratisierung und Kampf gegen die Wirtschaftsflaute zustande zu bekommen. Das nächste halbe Jahr ist weitgehend wahlkampffrei. Dann folgt ein Dauerwahlkampf bis zur Bundestagswahl im Herbst 2025, der mit der Europawahl und Kommunalwahlen in neun Ländern am 9. Juni eingeläutet wird. Erschütterungspotenzial für die politische Landschaft haben die Landtagswahlen nächstes Jahr im September in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, aus denen die AfD erstmals als Siegerin hervorgehen könnte. Umfragen sahen sie zuletzt bei jeweils über 30 Prozent.
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