Die Bluttat von Solingen entfacht alte Debatten neu. Drei Menschen wurden bei einem Stadtfest mit einem Messer getötet. Acht weitere wurden verletzt, vier davon schwer. Tatverdächtig ist ein 26 Jahre alter Syrer, der jetzt wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) und wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft ist. Hätten deutsche Behörden die Tat verhindern können? Was ist schiefgelaufen - und wer verantwortlich?
Wie konnte es zu dem Anschlag kommen?
Grundsätzlich ist es praktisch unmöglich, Anschläge im öffentlichen Raum komplett zu verhindern - gerade wenn es um Einzeltäter geht, die Alltagsgegenstände nutzen. Im konkreten Fall war der mutmaßliche Täter den Sicherheitsbehörden nicht als islamistischer Extremist bekannt.
Allerdings hätte er längst abgeschoben werden sollen, und zwar nach Bulgarien, wo er in der EU zuerst registriert worden war. Nach Deutschland kam der Syrer nach Angaben aus Behördenkreisen Ende Dezember 2022. Für sein Asylverfahren war nach den europäischen Dublin-Regeln aber Bulgarien zuständig. Dort habe man einer Rückführung sehr schnell zugestimmt, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit.
Der Abschiebeversuch scheiterte jedoch, als Behördenmitarbeiter den Mann im Juni 2023 nicht in seiner Unterkunft in Paderborn antrafen. Normalerweise müssten in einem solchen Fall weitere Versuche folgen. Die Ausländerbehörde müsste versuchen festzustellen, ob jemand möglicherweise untergetaucht ist. Auch ein Haftbefehl könnte ausgestellt werden.
Wenn einmal offiziell festgestellt ist, dass jemand untergetaucht ist, kann die normalerweise sechsmonatige Frist für eine Dublin-Überstellung - also eine Abschiebung in ein zuständiges europäisches Land - um zusätzliche zwölf Monate verlängert werden. Dies geschah im Fall des Syrers aber nicht.
Nach Einschätzungen aus Behördenkreisen hat er die Frist für seine Überstellung nach Bulgarien wohl gezielt verstreichen lassen. Die Sechs-Monats-Frist lief den Angaben zufolge am 20. August ab. Wenige Tage später habe der Mann über seine Anwältin Kontakt zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgenommen. Später wechselte er von der Flüchtlingsunterkunft in Paderborn nach Solingen.
Warum tun sich Behörden mit Abschiebungen so schwer?
Die Zahl der Rückführungen aus Deutschland ist im vergangenen Jahr auf 21.206 gestiegen, nach 18.094 Rückführungen im Vorjahr, wie aus dem in der vergangenen Woche vorgestellten Jahresbericht der Bundespolizei hervorgeht. Insgesamt 4.776 Menschen wurden 2023 an der Grenze zurückgeschoben. Geplant war aber deutlich mehr, und zwar insgesamt die Zurückschiebung oder Rückführung von 52.976 Menschen. Von Januar bis Juli gab es laut Innenministerium 11.102 Abschiebungen - dabei waren laut Bundesamt für Migration eigentlich 43.298 Menschen ohne Duldung ausreisepflichtig.
Dass Abschiebungen scheitern, kann viele Gründe haben, zum Beispiel Krankheit oder fehlende Papiere. Teils weigern sich Herkunftsländer auch, die Menschen zurückzunehmen. Oder die Polizei findet den Betroffenen zum geplanten Termin nicht. Der Bundestag hat zu Jahresbeginn Gesetzesverschärfungen beschlossen, um einige dieser Probleme zu adressieren. So wurde die gesetzliche Höchstdauer des Ausreisegewahrsams von bislang 10 Tagen auf 28 Tage verlängert. Außerdem dürfen Behördenvertreter künftig in Gemeinschaftsunterkünften auch andere Räume betreten als nur das Zimmer des Abzuschiebenden.
Allerdings fehlen auch Abschiebehaftplätze. Man habe im vergangenen Jahr in über 300 Fällen einen Haftbefehl erwirkt, um die Zurückschiebung oder Abschiebung zu sichern, sagte Bundespolizeipräsident Dieter Romann in der vergangenen Woche. »Aber es waren alle 800 Abschiebehaftplätze voll.«
Nach Ansicht des Bundesvorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt, sind Abschiebeverfahren zu kompliziert, es seien zu viele Behörden beteiligt. Die Kompetenzen liegen hier weitgehend bei Kommunen und Ländern, die Bundespolizei kommt dann bei der Durchführung ins Spiel. »Die Bundespolizei braucht endlich die gesetzlichen Kompetenzen, diese Abschiebungen auch in eigener Zuständigkeit durchzuführen. Dazu zählt auch die Beschaffung von Papieren im Ausland und der Betrieb eigener Abschiebehaftanstalten«, sagte Wendt der Deutschen Presse-Agentur.
Welche Verschärfungen sind für Messer im Gespräch?
Wenn es nach Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) geht, sollen Messer in der Öffentlichkeit nur noch bis zu einer Klingenlänge von sechs Zentimetern statt bisher zwölf Zentimetern mitgeführt werden dürfen. Für gefährliche Springmesser soll es ein generelles Umgangsverbot geben.
Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Jochen Kopelke, bezweifelt, dass das Täter aufhält, die einen Angriff vorsätzlich und geplant begehen. Man müsse das Mitführen von Messern generell verbieten, das kontrollieren und Strafen verhängen. »Nur, wenn jederzeit mit Kontrollen und empfindlichen Strafen zu rechnen ist, kann ein Verbot Wirkung zeigen.« Derzeit fehlten der Polizei für solche Kontrollen Personal und Befugnisse. Terror-Experte Peter Neumann gab zu bedenken, selbst wenn Messerangriffe verhindert würden, »dann würden eben Attentäter (…) mit Autos oder Lastwagen in Menschenmengen fahren. Und Autos, glaube ich, kann man nicht einfach so verbieten.«
Kann Deutschland kontrollieren, wer ins Land kommt?
Nur bedingt. Zwar gibt es seit Mitte Oktober vergangenen Jahres Grenzkontrollen zu Polen, Tschechien und der Schweiz. Bereits seit September 2015 gibt es Kontrollen an der österreichischen Grenze. Die sind aber nur punktuell. Faeser und Bundespolizei-Präsident Romann loben sie als Erfolg und verweisen dabei unter anderem auf die Festnahme von Schleusern. Zudem würden Menschen auch an der Grenze zurückgewiesen. Die Zahl unerlaubter Einreisen ist zuletzt gesunken.
Nur: Wer Asyl beantragen will, darf in der Regel auch ins Land. Und falls jemand doch zurückgeschickt wird, ist fraglich, ob er oder sie nicht einfach später oder an anderer Stelle einreist. Unions-Fraktionsvize Jens Spahn (CDU) sagte der »Rheinischen Post«: »Die deutschen Grenzen müssen für irreguläre Migration geschlossen werden.« Die Frage wäre dann jedoch, wie genau.
Flächendeckende stationäre Grenzkontrollen an allen Binnengrenzen hält GdP-Chef Kopelke nicht für möglich. »Weder Infrastruktur noch spezielle Übergänge wären vorhanden«, sagte er. Es gebe zum Beispiel nicht ausreichend Kontrollgeräte und Fahndungsfahrzeuge. Außerdem würden die stationären Kontrollen an der Süd- und Ostgrenze von Schleusern leicht umfahren. »Die dazwischen stattfindende Schleierfahndung muss auf moderne Füße gestellt werden«, forderte er.
Faeser jedenfalls will an den Grenzkontrollen festhalten, bis deutlich weniger Menschen unerlaubt nach Europa einreisen. Deutschland nehme viel mehr Migranten auf als andere Länder, was unfair sei. »Ich bin nicht mehr bereit, dass wir diese Zahlenverteilung innerhalb Europas hinnehmen«, sagte sie in der vergangenen Woche. In Berlin hofft man auch auf die Wirkung der jüngst verschärften europäischen Asylregeln - die müssen aber auch erst einmal umgesetzt werden.
Mediendienst Integration zu Abschiebungen
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zum Dublin-Verfahren
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