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30 Jahre Solingen-Anschlag: Steinmeier sieht Versäumnisse

Zum 30. Jahrestag des rassistischen Brandanschlags von Solingen sind die Spitzen des Staates in die Stadt gekommen für einen demonstrativen Schulterschluss gegen Rassismus und rechte Gewalt.

Frank-Walter Steinmeier
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht bei der Gedenkfeier zum 30. Jahrestag des Solinger Brandanschlags. Foto: David Young
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht bei der Gedenkfeier zum 30. Jahrestag des Solinger Brandanschlags.
Foto: David Young

30 Jahre nach dem rassistischen Brandanschlag von Solingen hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einen wachsamen und wehrhaften Staat gegen rechten Terror gefordert. »Als Bundespräsident kann ich nicht dazu schweigen, in welchem Klima diese Anschläge gediehen sind«, sagte Steinmeier bei einer Gedenkveranstaltung in Solingen.

»Unmittelbar nach dem Brandanschlag waren hier in Solingen alle Strickleitern ausverkauft«, erinnerte Steinmeier. »Die Menschen hatten Angst, sich im Notfall sonst nicht mehr aus dem oberen Stockwerk ihres Hauses retten zu können. In den Wohnungen standen damals Wassereimer bereit, um bei einem Feuer schnell löschen zu können. An den Klingelschildern und Briefkästen wurden alle fremd klingenden Namen abmontiert.«

Viel zu lange habe das Land der Behauptung von den verblendeten Einzeltätern aufgesessen, sagte Steinmeier. Die Strukturen und die Ideologie der Täter seien lange ignoriert worden. »Ich spreche von Rechtsextremismus. Von Rassismus. Von Menschenfeindlichkeit.«

Steinmeier: »Ich nenne das: Terror«

Rechtsextreme und Rassisten entmenschlichten den Einzelnen und verbreiteten damit Angst und Schrecken. »Ich nenne das: Terror. Dieser rechte Terror ist verantwortlich für die Toten hier in Solingen. Diesen rechten Terror gab es vor Solingen, und es gibt ihn nach Solingen«, sagte der Bundespräsident.

»Ich bin fassungslos, wenn ich höre, dass einzelne Angehörige von Sicherheitsbehörden, die rechtsextreme Anschläge verhindern sollen, sich in rechten Chatgruppen organisieren. Das können und das dürfen wir nicht dulden«, forderte Steinmeier.

Vor 30 Jahren, am 29. Mai 1993, starben fünf türkische Mädchen und Frauen, als Rechtsradikale das Wohnhaus der Familie Genç anzündeten: Saime Genç (4), Hülya Genç (9), Gülüstan Öztürk (12), Hatice Genç (18) und Gürsün Ince (27). Der Anschlag gilt als eines der schwersten rassistischen Verbrechen in der Geschichte der Bundesrepublik.

Kurz nach der Tat waren vier junge rechtsradikale Solinger im Alter zwischen 16 und 23 Jahren festgenommen worden. Sie waren der rechten Szene zuzuordnen und wurden 1995 wegen Mordes verurteilt.

"Auch 30 Jahre nach der grausamen Tat von Solingen sind wir noch immer fassungslos, zornig, traurig", sagte Steinmeier. Aber: Wir sind nicht eingeschüchtert, nicht hilflos, nicht tatenlos."

Faeser: »Geschlossen gegen rassistische Stimmung stellen«

»Wichtig ist in solchen Situationen immer, dass sich die Politik geschlossen gegen diese rassistische Stimmung stellt«, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), die ebenfalls nach Solingen gekommen war.

»Damals sind wir nicht früh genug entgegengetreten, damals haben wir die Zusammenhänge nicht gesehen. Das war ein Versäumnis der damaligen Politik, das muss man ganz klar auch so benennen«, sagte Faeser am Rande der Gedenkveranstaltung.

»Deswegen bin ich froh, dass alle drei Ebenen hier sind. Die Kommune macht einen tollen Job, die Landesregierung ist gut vertreten, der Bund ist gut vertreten, der Bundespräsident selbst ist da. Das sind die richtigen Signale an einem solchen Tag des Gedenkens.«

»Der 29. Mai ist einer der dunkelsten Tage in der Geschichte unseres Landes«, sagte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU). »Es war ein Anschlag, begangen aus Hass. Wie kann jemand Hass auf eine Vierjährige haben?«

Solingens Bürgermeister Tim Kurzbach (SPD) erinnerte an die Worte der im vergangenen Oktober gestorbenen Mevlüde Genç, die bei dem Anschlag mehrere Familienmitglieder verlor: »Der Tod meiner Kinder soll uns dafür öffnen, Freunde zu werden.« In der Stadt war am Sonntag ein Platz nach der Bundesverdienstkreuzträgerin benannt worden.

Für die Türkei dankte deren stellvertretender Außenminister Yasin Ekrem Serim den Verantwortlichen der Stadt Solingen dafür, dass sie das Gedenken an den Anschlag zur »DNA der Stadt« habe werden lassen. Auch die Hilfe aus Deutschland für die Opfer des schweren Erdbebens in der Türkei sei in seinem Land sehr dankbar aufgenommen und registriert worden.

Angehörige nehmen an der Gedenkveranstaltung teil

An der Gedenkveranstaltung nahmen neben Bundes- und Landesministern, der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) und dem Landtagspräsidenten André Kuper (CDU) auch die überlebenden Familienmitglieder und Angehörige der Todesopfer teil.

Schließlich ergriff eine Enkelin von Mevlüde Genç am Ende der Veranstaltung das Wort: Ihre Großmutter habe Deutschland nach dem Anschlag nicht verlassen, sondern zu Liebe und Besonnenheit aufgerufen und bewusst die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt, sagte Özlem Genç.

»Der Hass bringt den Tod«, habe ihre Großmutter gesagt und so den triumphalen Sieg des Guten über das Böse verkörpert. Man müsse sich heute aber auch fragen, ob die laute Minderheit das Problem sei, die das Internet mit Hass überflute, oder die breite Mehrheit, die nicht in der Lage sei, das Richtige zu sagen.

© dpa-infocom, dpa:230528-99-862151/5