Der diesjährige Nobelpreis für Physik stellt das menschliche Vorstellungsvermögen vor eine Herausforderung. Es geht darum, die schnellsten Prozesse in der Natur außerhalb des Atomkerns in Echtzeit zu verfolgen: die Bewegungen von Elektronen.
Ermöglicht haben dies der in Ungarn geborene Ferenc Krausz, der in Garching bei München forscht, sowie die beiden aus Frankreich stammenden Forschenden Anne L'Huillier und Pierre Agostini, wie die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm mitteilte.
Blick auf rasend schnelle Prozesse in Atomen
Sie entwickelten einen Weg, extrem kurze Lichtblitze zu erzeugen, mit denen sich jene ultraschnellen Prozesse messen lassen, in denen sich Elektronen bewegen oder Energie ändern. »Diese Bewegungen initiieren jegliche molekulare Vorgänge in lebenden Organismen und sind letzten Endes auch für die Entstehung von Krankheiten auf fundamentalster Ebene verantwortlich«, sagte Krausz der Deutschen Presse-Agentur. Zum Preis sagte er: »Ich versuche zu realisieren, dass das Realität ist und kein Traum.«
Schnelllebige Ereignisse gehen in der Wahrnehmung des Menschen ineinander über - so wie ein aus Standbildern bestehender Film als kontinuierliche Bewegung wahrgenommen wird. In der Welt der Elektronen fänden Veränderungen in wenigen Zehntel Attosekunden statt, so das Nobelkomitee.
Eine Attosekunde ist ein Milliardstel einer Milliardstel Sekunde (0,000000000000000001 Sekunden). »Eine Attosekunde ist so kurz, dass es in einer Sekunde so viele davon gibt, wie es Sekunden seit der Entstehung des Universums gibt«, heißt es in der Begründung. Das Universum ist 13,8 Milliarden Jahre alt.
Der 61 Jahre alte Krausz forscht als Direktor am Max-Planck-Institut für Quantenoptik (MPQ) in Garching und an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die 1958 geborene L’Huillier arbeitet an der Universität Lund (Schweden) und der inzwischen emeritierte Agostini, Jahrgang 1941, in den USA an der Ohio State University.
Die Grundlage der Forschung erarbeitete L'Huillier: 1987 sandte sie infrarotes Laserlicht durch ein Edelgas. Dabei entdeckte sie, dass in dem Licht spezielle Wellen entstehen. Denn das Laserlicht interagiert mit den Atomen des Gases und lädt manche Elektronen mit Energie auf, die dann als Licht abstrahlt. Agostini erzeugte 2001 Serien von Lichtblitzen, bei denen jeder Puls etwa 250 Attosekunden dauerte. Krausz isolierte einzelne Lichtpulse mit einer Dauer von etwa 650 Attosekunden.
Neue Arbeitsgebiete entstanden
»Wir können jetzt die Tür zur Welt der Elektronen öffnen«, erklärte Eva Olsson, Vorsitzende des Nobelkomitees für Physik. »Die Attosekunden-Physik bietet uns die Möglichkeit, Mechanismen zu verstehen, die von Elektronen gesteuert werden.« Dazu zählen etwa elektronische Geräte wie Computer oder Mobiltelefone, wie Krausz der dpa sagte.
Auf Basis seiner Forschungen seien neue Arbeitsgebiete entstanden wie die hochauflösende Mikroskopie lebender Organismen, schrieb Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Gratulation am Dienstag. »Zudem konnten Sie Laser entwickeln, die bei der Diagnose von Augen- und Krebskrankheiten eingesetzt werden und haben damit der Menschheit einen großen Dienst erwiesen.«
Krausz erklärte: »Was meine Arbeitsgruppe derzeit am meisten interessiert, ist die Nutzung der Wechselwirkung, die Selektion mit Licht zur Früherkennung von Krankheiten.«
Dabei gehe es in einer bereits laufenden Langzeitstudie insbesondere um die Früherkennung von Tumoren von Lunge, Brust und Prostata. Dabei werden bei inzwischen 10.000 Teilnehmern, die anfangs gesund waren, regelmäßig Blutproben mit Infrarot-Laserlicht durchleuchtet, um Hinweise auf sich ausbildende Krankheiten zu gewinnen. Dies werde mit Laboruntersuchungen abgeglichen.
»Die Resultate sind sehr vielversprechend«, so Krausz. »Aber bis wir alle Beweise erbracht haben, dass das tatsächlich eine verlässliche Methode ist, denke ich, werden vermutlich noch fünf bis zehn Jahre vergehen.«
Anruf aus Stockholm im Unterricht
L'Huillier - erst die fünfte Frau, die den Physik-Nobelpreis erhält - reagierte pflichtbewusst auf die höchste Auszeichnung der Wissenschaft: »Ich habe unterrichtet«, sagte die Atomphysikerin auf die Frage, wo die Nachricht sie erreicht habe. Sie habe den Anruf erst beim dritten oder vierten Versuch in einer Pause annehmen können - und führte dann den Unterricht fort. Allerdings sei die letzte halbe Stunde ihrer Vorlesung »etwas schwierig« gewesen.
Auch Krausz traf der Anruf unvorbereitet. »Wenn man mit sowas rechnet, dann macht man sich eigentlich nur verrückt«, sagte der Physiker, der verheiratet ist, zwei erwachsene Töchter hat und als Hobbys Lesen und Sport nennt. »Die Freizeit ist ein knappes Gut, wenn man in der Forschung tätig ist.«
Die bedeutendste Auszeichnung für Physiker ist in diesem Jahr mit insgesamt elf Millionen Kronen (rund 950.000 Euro) dotiert. Seit der ersten Vergabe im Jahr 1901 haben nunmehr 5 Forscherinnen und 219 Forscher den Physik-Nobelpreis zuerkannt bekommen - einer davon, der US-Amerikaner John Bardeen, sogar zweimal.
Weitere Nobelpreise
Am Montag war der Nobelpreis für Medizin der in Ungarn geborenen Biochemikerin Katalin Karikó und dem US-Immunologen Drew Weissman zugesprochen worden. Sie hatten grundlegende Arbeiten zur Entwicklung der mRNA-Impfstoffe gegen Corona geleistet, wie es in der Begründung des Karolinska-Instituts in Stockholm heißt.
Am Mittwoch werden die Träger des Chemie-Nobelpreises verkündet. Am Donnerstag und Freitag folgen die Bekanntgaben für den Literatur- und den Friedens-Nobelpreis. Der Reigen endet am kommenden Montag mit dem von der schwedischen Reichsbank gestifteten Wirtschafts-Nobelpreis.
Die feierliche Überreichung der Auszeichnungen findet traditionsgemäß am 10. Dezember statt, dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel.
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