BERLIN. Die Kinder- und Jugendpsychiatrien haben wegen der Corona-Pandemie ihre Belastungsgrenze erreicht.
Der Bedarf an Versorgung sei in der Corona-Krise enorm gestiegen, sagte der Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie des LMU-Klinikums in München, Gerd Schulte-Körne, am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. Er verglich die aktuelle Situation mit einem Fass, das jetzt überlaufe.
Zuvor hatte der Verband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) in der »Rheinischen Post« von einer »Triage« gesprochen. »Es gibt psychiatrische Erkrankungen in einem Ausmaß, wie wir es noch nie erlebt haben«, sagte BVKJ-Sprecher Jakob Maske. »Wer nicht suizidgefährdet ist und «nur» eine Depression hat, wird gar nicht mehr aufgenommen.«
Die stellvertretende Vorsitzende des Bundesverbands für Kinder- und Jugendpsychiatrie (BKJPP), Annegret Brauer, sagte der dpa, die Regelversorgung in Kliniken sei insgesamt stark eingeschränkt, »das betrifft uns natürlich auch«. Durch die Infektionsschutzmaßnahmen könnten weniger Patienten auf der Station aufgenommen werden. Doch auch die Art der Anfragen habe sich verändert, es gebe weniger Anrufe wegen Schulproblemen. Im Gegenzug sieht Brauer eine Zuspitzung bei den Patientinnen und Patienten, die schon vor der Pandemie belastet waren.
Von einer Triage würde Brauer zwar nicht sprechen, doch es werde stärker darauf geachtet, wer wirklich eine stationäre Behandlung benötige. Es finde daher eine Verschiebung zu niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten statt.
Schulte-Körne zufolge steigt der Bedarf seit einem dreiviertel Jahr merklich. Dies habe auch mit einer üblichen Verzögerung bei psychischen Erkrankungen zu tun, erläuterte der Psychiater. Es dauere mehrere Monate bis die Reaktion auf einen äußeren Einfluss sichtbar werde. Die Eltern sähen das Problem jedoch schon lange vorher und wüssten angesichts knapper Plätze nicht, was sie tun sollten. Sowohl Brauer als auch Schulte-Körne betonten, dass der Bedarf auch schon vor der Krise sehr hoch gewesen sei.
Brauer sorgt sich besonders um Jugendliche in der Orientierungsphase. Im Alter zwischen 12 und 14 Jahren seien »Freunde wichtiger als die Eltern«. Der direkte Kontakt, auch in der Schule, fehlt aktuell. Ihr Kollege verwies zudem auf Studien, nach denen Ängste bei Kindern und Jugendlichen deutlich zugenommen hätten. Vor allem bei gesellschaftlichen Risikogruppen wie Kindern mit Lernstörungen oder Behinderten sei die Unterstützung weggebrochen.
Der Linken-Fraktionschef im Bundestag, Dietmar Bartsch, forderte wegen der gestiegenen Zahl von psychischen Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen eine schnelle Rückkehr zum Regelunterricht. »Boomende Praxen für Kinderpsychiatrie sind ein Debakel für unser Land«, sagte er den Zeitungen der »Funke Mediengruppe«. (dpa)