Oslo (dpa) - 100 Jahre, nachdem der Mensch das Rentier auf der Inselgruppe Spitzbergen im Nordatlantik stark dezimiert hatte, hat sich die Art wieder weitgehend erholt.
Zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie (NTNU) in Trondheim. »Um 1900 waren die Rentiere auf Svalbard (norwegischer Name der Inselgruppe) mehr oder weniger ausgerottet«, sagt die Biologin Mathilde Le Moullec. Damals habe es nur noch ein paar Tausend Tiere gegeben.
Nachdem sie und Kollegen zwischen 2013 und 2016 die Inselgruppe in vier Expeditionen zu Fuß und mit dem Boot erforscht haben, schätzen sie die Population auf Spitzbergen auf rund 22.000 Tiere. Für das Projekt erfassten die Forscher Tierbegegnungen ebenso wie Satellitenbilder der Vegetation und Funde von Knochen und Geweihen. Die Überreste gaben Auskunft, wo auf den verschiedenen Inseln die Tiere im Laufe der Jahrhunderte gelebt haben und wie lange. Der älteste Fund ist vermutlich 3600 Jahre alt.
Mit der Ankunft des Menschen auf den eisigen Inseln wurden die Tiere zur begehrten Beute. Nachdem der Niederländer Willem Barents 1596 über die Entdeckung berichtet hatte, kamen etwa Walfänger, Fischer und andere Besucher auf die Inseln, um Rentiere zu jagen. Als im späten 19. Jahrhundert Kohle gefunden wurde, wurde ihr Fleisch zum Nahrungsmittel für die Minenarbeiter.
Nur in einigen isolierten Gebieten verblieben damals kleine Populationen. Ihnen sei es zu verdanken, dass der Bestand wieder wachsen konnte, nachdem die norwegische Regierung die Tiere 1925 unter Schutz stellte, sagt Le Moullec. Von einer vollständigen Erholung spricht die Biologin aber nicht. »In den Gebieten, in denen sie ausgerottet wurden, hat ihre Anzahl noch Potenzial zu steigen.«
Zur weltweiten Entwicklung des Rentierbestandes gibt es unterschiedliche Angaben. Nach Angaben der Umweltorganisation WWF (World Wide Fund For Nature) liegt er bei rund 2,8 Millionen wilden Tieren. Andere Quellen sprechen von 3,8 Millionen. In den vergangenen 25 Jahren sei die Zahl der Tiere um 40 Prozent zurückgegangen, sagt Roland Gramling vom WWF. So habe die russische Taimyr-Riesenherde noch im Jahr 2000 aus etwa einer Million Tieren bestanden. Inzwischen sei sie auf geschätzt 380.000 Exemplare geschrumpft. Ein Grund sei Wilderei. »Es gibt wahre Rentier-Massaker. Die Geweihe werden zu Pulver verarbeitet und vor allem in China als Heilmittel verkauft. Zungen sind als Delikatesse gefragt«, so Gramling.
Hinzu kommt der Klimawandel: Die Erderwärmung führt dazu, dass in warmen Wintern mehr Tiere sterben, weil sie nicht ausreichend Nahrung finden. Der Schnee schmilzt und gefriert dann zu Eis, was den Boden verschließt. Für große Populationen reicht die Nahrung dann nicht mehr aus. Auf Spitzbergen ist die Durchschnittstemperatur seit 1961 um 5,6 Grad gestiegen. Hier haben die Forscher festgestellt, dass die Rentierpopulationen im Landesinneren stärker gedeihen als an der Küste, wo die Winter regnerischer und wärmer sind.
Ein anderes Problem sei, dass zur Kalbungszeit im Frühjahr die Flüsse immer häufiger schon getaut seien und die neugeborenen Jungtiere Kilometer durch das eisige Wasser schwimmen müssten, so Gramling.
Die norwegischen Forscher betonen, der Zusammenhang zwischen Rentierbeständen und den Klimaveränderungen solle genau beobachtet werden: »Angesichts der Tatsache, dass es ungefähr ein Jahrhundert gedauert hat, bis sich die Unterarten von der Überjagung auf Svalbard erholt haben, ist die Anpassungsfähigkeit der Rentiere möglicherweise zu langsam, um mit der Geschwindigkeit des zukünftigen Klimawandels Schritt zu halten.«