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Angehende Ärztin mit Tourette-Syndrom

Stella Lingen ist angehende Ärztin an einer Essener Klinik. Die junge Frau hat das Tourette-Syndrom. Ihrer Arbeit tut das keinen Abbruch - und ihrem Humor auch nicht.

Essen
Stella Lingen ist angehende Ärztin mit Tourette-Syndrom in der Krankenhaus-Notaufnahme der evangelischen Kliniken Essen-Mitte. Foto: Christoph Reichwein
Stella Lingen ist angehende Ärztin mit Tourette-Syndrom in der Krankenhaus-Notaufnahme der evangelischen Kliniken Essen-Mitte.
Foto: Christoph Reichwein

Wenn die angehende Ärztin Stella Lingen unterbrochen oder überraschend angesprochen wird, reagiert sie schon mal spontan mit »Halt die Fresse«. Aus heiterem Himmel verdreht sie die Augen und schimpft »Hurensohn«, ruft »Hitler« oder »Ich habe Corona« - all das ohne Absicht und ohne dass sie es steuern kann.

Lingen will niemanden beleidigen und ist auch nicht Corona-positiv. Die 25-Jährige hat die unheilbare neuro-psychiatrische Erkrankung Tourette, ihre Ausrufe sind Tics, Ausdruck ihrer Krankheit. Seit ihrem 21. Lebensjahr steht die Diagnose fest. Ihr Medizinstudium hat sie trotzdem fortgesetzt. Ende dieses Jahres will sie Examen machen, später promovieren und irgendwann eine Praxis als Allgemeinmedizinerin eröffnen.

Aktuell arbeitet die Essenerin in der Notfall-Ambulanz des Essener Huyssenstifts, ihre nächste Station ist eine Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bei der Arbeit störten die Tics kaum, sagt die junge Frau im weißen Kittel. »In Gesprächen mit Patienten bin ich konzentriert, da tauchen sie kaum auf.« Meist schaffe sie es dann auch, Tics zu unterdrücken. »Ich kann fast alles machen, auch motorisch, wie etwa Zugänge legen«, sagt sie. Sie fährt auch Auto - als sie während des Medizinstudiums im Rettungsdienst gearbeitet hat, steuerte sie sogar den Rettungswagen.

Tourette tritt meist schon in der Kindheit auf

»Stella Lingen ist die erste angehende Medizinerin mit Tourette-Syndrom, die ihr Praktisches Jahr bei uns absolviert«, sagt ihr Chef Dr. Andreas Grundmeier, Direktor der Klinik für Notfallmedizin & Internistische Intensivmedizin an den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM). »Wir waren natürlich gespannt, hatten aber nach den ersten Gesprächen keinerlei Bedenken und wurden im Alltag bestätigt«, sagt er. Sie sei offen, freundlich und in Behandlungssituationen immer äußerst fokussiert. »Und manchmal entspannt sich in der Notaufnahme durch den Austausch über ihre überraschenden Tics auch eine angespannte Patienten-Situation«, sagt der Klinikdirektor.

Tourette-Erkrankungen treten meist schon in der Kindheit auf, bei Lingen zeigte sich die Erkrankung aber erst im jungen Erwachsenenalter zunächst mit leichtem Zusammenzucken, wie es viele Menschen beim Einschlafen erleben. Später kamen stärkere Armbewegungen und dann auch verbale Tics dazu, erst Räuspern und Pfeifen, später auch unkontrolliert ausgestoßene Wörter. Eineinhalb Jahre habe es bis zur Diagnose gedauert - eine Zeit der persönlichen Unsicherheit etwa auch mit der Frage, ob sie weiter Medizin studieren könne, erzählt sie.

Lingen: Schlafmangel verringert die Tics

Inzwischen hat sie sich mit der Krankheit arrangiert, ihr Selbstbewusstsein ist gewachsen. Sie hat ihrer Krankheit einen Namen gegeben: Steve. Medizinische Kollegen informiert sie von sich aus, wenn sie neu in eine Abteilung kommt. Patienten sage sie es erst mal nicht, wenn die Situation es nicht erfordere. Auch lange Schichten mit Schlafmangel seien kein Problem, sagt sie. »Schlafmangel ist sogar positiv. Das verringert die Tics.«

Prinzipiell spreche nichts gegen einen fordernden Job für Menschen mit Tourette-Syndrom, sagt Privatdozent Dr. Daniel Huys, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der Allgemeinpsychiatrie an der LVR-Klinik Bonn, der seit Jahren Spezial-Sprechstunden für Menschen mit Tic-Erkrankungen anbietet. »Wir sehen hier einige Erkrankte, die in Führungspositionen arbeiten: etwa als Unternehmensberater, Hotelmanager oder Schiffskapitän.«

Entscheidend sei, wie stark beeinträchtigend und belastend die Betroffenen ihre Krankheit selbst wahrnähmen. Und eine erfüllende Tätigkeit wie der Arztberuf gebe den Menschen ja auch viel Positives zurück; seine strukturierende Wirkung habe zudem nachweislich positive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit.

Der Druck der Krankheit ist natürlich trotzdem da - schon durch die Anstrengung, Tics zu unterdrücken und gelegentlich eben doch durch Konflikte mit der Umgebung. Einmal habe sie im Bus Streit bekommen mit einer älteren Frau, weil sie mehrfach »Hitler« gerufen habe, erzählt Lingen. Als die Frau sie verbal attackierte, habe Lingen die Mitreisende rassistisch beschimpft - ohne es zu meinen und ohne etwas dagegen tun zu können.

Aufklärung auf Social Media

»Das war nicht meine Absicht, Hitler ist nicht meine Gedankenwelt«, sagt sie. Das verstehen aber Außenstehende manchmal nicht. Lingen will deshalb mit ihrem medizinischen Fachwissen aufklären über die Krankheit - und das nicht immer bierernst.

Die Ärztin hat für den bekannten Youtube-Kanal »Gewitter im Kopf - Leben mit Tourette« von Jan Niklas Zimmermann und Tim Lehmann an mehreren Beiträgen mitgewirkt, in denen manchmal auch kräftig gelacht wird. Seit einiger Zeit hat sie auch ihren eigenen Youtube-Kanal mit bereits mehr als 17.000 Abonnenten. »Stella - Die Lizenz zum Fluchen«, hat sie ihn genannt.

© dpa-infocom, dpa:230309-99-884960/2