Die stark gestiegenen Preise für Gas und Strom bringen bereits zum Herbst knapp die Hälfte der Menschen in Großbritannien finanziell an ihre Grenzen. Das geht aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Opinium hervor, die am Donnerstag veröffentlicht wurde. Demnach sagen 45 Prozent der Befragten, sie könnten sich den zum 1. Oktober für einen durchschnittlichen Haushalt auf umgerechnet rund 4100 Euro jährlich gestiegenen Preisdeckel nicht mehr leisten.
Beinahe 40 Prozent der Menschen im Vereinigten Königreich sparen demzufolge schon jetzt beim Einkauf von Lebensmitteln, um mit der Preissteigerung zurechtzukommen. Fast 20 Prozent lassen Mahlzeiten aus. Knapp ein Drittel legt weniger Geld zurück, um die höheren Ausgaben auszugleichen. Neun von zehn Briten sagen, dass sie sich angesichts der Preissteigerung Sorgen machen.
Der Druck auf die Regierung ist enorm, Maßnahmen zur Entlastung von Haushalten anzukündigen. Mit einem konkreten Plan wird aber erst nach dem 5. September gerechnet, wenn die Nachfolge des scheidenden Premiers Boris Johnson geklärt ist. Außenministerin Liz Truss, die als Favoritin gilt, kündigte lediglich »umgehende Hilfe« an. Allerdings sei es nicht angebracht,Details darzulegen, solange sie noch nicht im Amt sei, schrieb sie in einem Gastbeitrag in der »Sun«.
Einsparungen bei öffentlichen Gebäuden und andere Maßnahmen wie in Deutschland schließt die Regierung in London bislang aus. »Derartige Pläne werden nicht erwogen (...)«, teilte das zuständige Ministerium mit. Zur Begründung hieß es, Großbritannien habe durch seine diversifizierte Energieversorgung aus unterschiedlichen Quellen einen »strategischen Vorteil« gegenüber anderen europäischen Ländern.
Erwartet wird, dass die Deckelung auch im Januar und im April noch einmal kräftig angehoben wird, um die hohen Marktpreise für Strom und Gas widerzuspiegeln und Anbieter vor dem Kollaps zu bewahren. Prognosen zufolge könnte dann die jährliche Energierechnung für durchschnittliche Haushalte auf beinahe 7000 Pfund (etwa 8100 Euro) steigen.
Studie sieht Millionen Menschen in Armut abrutschen
Einer neuen Studie zufolge wird die Armut in Großbritannien wegen explodierender Kosten für Energie und Lebensmittel deutlich zunehmen. Setze die künftige Regierung die bisherige Politik fort, werde die Zahl der Menschen in absoluter Armut bis zum Haushaltsjahr 2023/24 (31. März) um 3 auf 14 Millionen steigen, teilte die Denkfabrik Resolution Foundation (RF) am Donnerstag mit. Das wäre fast jeder Fünfte der 67 Millionen Einwohner. Die relative Kinderarmut - wenn Eltern weniger als 50 Prozent des Durchschnitts-Nettoeinkommens für ihre Familie zur Verfügung haben - klettert demnach bis 2026/27 auf 33 Prozent.
Hauptursache sei der rasante Fall der Reallöhne, betonte der Thinktank. Bis Mitte 2023 werde das gesamte Reallohnwachstum seit 20 Jahren zunichte gemacht sein.
Am kommenden Montag gibt die regierende Konservative Partei bekannt, ob Außenministerin Liz Truss, die als Favoritin gilt, oder Ex-Finanzminister Rishi Sunak die Nachfolge von Premierminister Boris Johnson antritt. Resolution Foundation betonte, erhebliche Unterstützungsmaßnahmen der neuen Regierung seien angesichts des Ausmaßes der wirtschaftlichen Probleme unvermeidlich. Die Denkfabrik schlug unter anderem zusätzliche Hilfen bei Energierechnungen sowie höhere Sozialleistungen vor.
»Großbritannien erlebt bereits den größten Rückgang der Reallöhne seit 1977, und ein harter Winter droht, da die Energierechnungen auf 500 Pfund im Monat schnellen werden«, sagte RF-Expertin Lalitha Try. Die Aussichten seien erschreckend, deshalb seien radikale politische Handlungen wie etwa ein Energieunterstützungspaket im Wert von Dutzenden Milliarden Pfund nötig.
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