Die Stromversorgung in Deutschland wäre mittelfristig auch bei einem vollständigen vorgezogenen Kohleausstieg und trotz eines höheren Verbrauchs etwa durch Elektroautos gesichert. Zu diesem Ergebnis kommt ein Bericht der Bundesnetzagentur, der im Bundeskabinett vorgestellt und beschlossen wurde.
»Das gilt auch unter der Voraussetzung, dass der Kohleausstieg, der ja 2038 für die ostdeutschen Reviere vereinbart ist, vorgezogen werden sollte«, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) in Berlin. Die deutsche Energieversorgung sei sicher, es werde zu allen Stunden des Jahres ausreichend Strom zur Verfügung stehen.
Die Ampel-Koalition hatte sich darauf verständigt, den Kohleausstieg »idealerweise« auf 2030 vorzuziehen, um den Ausstoß klimaschädlichen Kohlendioxids zu verhindern. Bislang ist ein um acht Jahre vorgezogener Ausstieg aber nur im Rheinischen Revier beschlossen. In den Revieren in Ostdeutschland ist er noch umstritten.
Habeck hatte sich bereits für einen früheren Kohleausstieg im Osten ausgesprochen - aber zugleich betont, dass ein vorgezogener Ausstieg im Konsens vereinbart werden müsse. Umstritten ist auch die Entscheidung der Bundesregierung, dass Mitte April die drei noch verbliebenen Atomkraftwerke vom Netz gehen.
Habeck: »Maßnahmen müssen auch umgesetzt werden«
Die Analyse der Bundesnetzagentur berücksichtigt neben dem höheren Stromverbrauch - etwa für E-Autos, Wärmepumpen und Elektrolyseure - auch die Ausbauziele des Bundes für erneuerbare Energien. »Daraus ergibt sich natürlich logischerweise, dass die Maßnahmen umgesetzt werden müssen«, sagte Habeck. Denn sie würden - wie der Bericht zeige - zu einem sicheren, kostengünstigen, aber vor allem klimaneutralen Energiesystem führen.
Zu einem früheren Kohleausstieg heißt es im Bericht, dieser sei ohne Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit möglich. Die Energiemengen aus Kohle müssten aber anderweitig kompensiert werden, um das Versorgungssicherheitsniveau aufrecht zu erhalten. Dies geschehe über den Zubau von emissionsärmeren Stromproduktionskapazitäten wie etwa erdgasbefeuerten wasserstofffähigen Kraftwerken oder von Erneuerbaren Energien. Die Bundesregierung will zeitnah eine »Kraftwerksstrategie 2026« vorlegen, die den Rahmen für den Bau neuer Kraftwerke noch in diesem Jahrzehnt setzen soll.
Schneller vorangehen soll die Planung und Genehmigung neuer Stromtrassen. »Alles zusammen - beschleunigter Netzausbau, beschleunigter Hochlauf der erneuerbaren Energien, und eben für die Lücken, die bleiben werden, den Kraftwerkspark zu designen und herzustellen - ist die Aufgabe bis 2030. Und dann ist die Versorgung gesichert«, sagte Habeck.
Der Bericht zum Monitoring der Versorgungssicherheit mit Strom wird alle zwei Jahre von der Bundesregierung veröffentlicht. Das aktuelle Papier untersucht den Zeitraum von 2025 bis 2031. Der Bericht betrachtet demnach die für den Markt und das Netz erwartbaren Entwicklungen, zielt aber nicht auf die Analyse von Krisenszenarien ab. Er sei damit klar zu trennen von der parallelen Bedarfs- und Systemanalysen der Übertragungsnetzbetreiber. Diese werde aktuell erarbeitet und im April vorgelegt, hieß es.
FDP: Fahrlässig, sich auf den Bericht zu verlassen
FDP-Fraktionsvize Lukas Köhler sagte der Deutschen Presse-Agentur, der aktuelle Bericht zeige, dass die Versorgungssicherheit unter optimalen Bedingungen gewährleistet sei. »Es wäre jedoch fahrlässig, sich darauf zu verlassen, dass alle politisch gesetzten Ziele auch tatsächlich erreicht werden.« Entscheidend für eine sichere und bezahlbare Stromversorgung würden der Zubau von Gaskraftwerken sowie der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft sein. »Dafür brauchen wir dringend entsprechende Investitionsanreize.«
Der Stadtwerkeverband VKU erklärte, die positiven Prognosen der Bundesnetzagentur seien derzeit zu optimistisch. »Die Ausbaugeschwindigkeit bei den erneuerbaren Energien muss im Vergleich zum heutigen Stand verdreifacht werden, um die im Bericht zugrunde gelegte Ziele bei den Erneuerbaren-Kapazitäten zu erreichen«, sagte Verbandschef Ingbert Liebing. Bei der Umsetzung aber hake es.
Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft sieht ebenfalls immense Herausforderungen. Ohne verbesserte Rahmenbedingungen seine die Ziele kaum zu erreichen, sagte Verbandschefin Kerstin Andreae. Deutschland müsse einen Spurt in nie gekannter Geschwindigkeit hinlegen, wenn die Transformation zum klimaneutralen Stromsystem bis 2035 bei gleichzeitigem Kohleausstieg bis 2030 erreicht werden solle. Der erforderliche beträchtliche Zubau wasserstofffähiger Gaskraftwerke und Biomasse-Anlagen sei aktuell nicht realistisch.
Spahn kritisiert Bericht als »politisch motivierten« Optimismus
Der Bundesverband Erneuerbare Energie (BEE) dagegen kritisierte den Bau neuer Gaskraftwerke als »Sackgasse«. Die schwankende Energieproduktion aus Wind und Sinne könne vollständig erneuerbar gedeckt werden, etwa mittels des bestehenden Bioenergieanlagenparks, grüner Kraft-Wärme-Kopplung oder Wasserkraft, sagte BEE-Präsidentin Simone Peter. Anreize für neue fossile Infrastrukturen stünden einer zukunftsfähigen Kraftwerksstrategie entgegen.
Unions-Fraktionsvize Jens Spahn kritisierte den Bericht als »politisch motivierten« Optimismus. Er beruhe auf Annahmen wie einem Zubau bei Gaskraftwerken oder einer Verdreifachung des Ausbaus erneuerbarer Energien. Davon sehe man aber noch wenig, sagte Spahn dem Nachrichtenportal »ZDFheute.de«. »Ich würde mir weniger Gesundbeten wünschen und mehr konkretes Handeln, denn 2030 - das ist schon bald. Und da brauchen wir sicher verlässlich Strom und Energie für Deutschland.«
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