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Pharmabranche profitiert von Krankheitswelle

In der Pandemie gab es deutlich weniger Grippe-Erkrankungen und Erkältungen als sonst üblich. Nun hat eine Krankheitswelle Deutschland seit Monaten fest im Griff. Gewinner ist die Pharmaindustrie.

Medikamente
Blick in das automatisierte Medikamentenlager einer Apotheke. Foto: Jan Woitas
Blick in das automatisierte Medikamentenlager einer Apotheke.
Foto: Jan Woitas

Masken, Lockdowns, Abstandsregeln: In den ersten Corona-Jahren verlief die Erkältungs- und Grippesaison in Deutschland viel glimpflicher als sonst. Dieser angenehme Effekt der Corona-Maßnahmen geriet zum Nachteil vieler Pharmafirmen, die in der Pandemie maue Geschäfte mit rezeptfreien Arzneien machten. In den vergangenen Monaten aber hat sich die Lage komplett gedreht: Da ungewöhnlich viele Menschen von Krankheiten gebeutelt werden, zog das Geschäft mit frei verkäuflichen Erkältungsmitteln rapide an. Das zeigen neue Branchendaten und eine dpa-Umfrage unter Pharmaunternehmen. Dort läuft die Produktion auf Hochtouren.

Der hessische Arznei-Konzern Stada etwa berichtete von einer »sehr ausgeprägten Erkältungssaison«, die früher als sonst begonnen habe. Der Absatz von Erkältungsprodukten in Deutschland sei im vierten Quartal 2022 um fast die Hälfte gestiegen, gemessen am Vorjahr. Man beobachte in fast allen Bereichen des Portfolios an rezeptfreien Arzneien eine gestiegene Nachfrage, besonders aber bei Erkältungsmitteln wie Grippostad und Silomat. Die Produktion etwa von Nasensprays habe man kurzfristig deutlich erhöht.

Der Arzneikonzern Teva, zu dem Ratiopharm aus Ulm gehört, verzeichnet einen immensen Bedarf an Schmerzprodukten. »Von der Paracetamol-Lösung von Ratiopharm haben wir 2022 mehr als das Doppelte der Menge vom Vorjahr verkauft.« Im Schlussquartal sei die Nachfrage nach dem Schmerzmittel Paracetamol-Ratiopharm um ein Viertel und nach Ibu-Ratiopharm um rund ein Drittel gestiegen, so Teva Deutschland. Die Nachfrage nach Hustenlösern am Markt sei um über die Hälfte und die nach Grippepräparaten um über ein Drittel gewachsen.

Rezeptfreie Medikamente sind ein Milliardengeschäft

Ähnlich äußerte sich Pohl-Boskamp aus Schleswig-Holstein, bekannt für das Erkältungsmittel Gelomyrtol. Hätten sich die Fallzahlen bei Atemwegsinfektionen im Winter 2021 auf niedrigem Niveau bewegt, sei 2022 ganz anders verlaufen. Der Mittelständler spürte eine unerwartet hohe Nachfrage nach Produkten etwa gegen Bronchitis, Stimmbeschwerden und Halsschmerzen. »Bereits über Sommer des vergangenen Jahres konnten wir eine stark erhöhte Nachfrage nach unseren Gelo-Produkten verzeichnen, die sich im vierten Quartal bis Weihnachten nochmals deutlich oberhalb aller Referenzwerte der Vorjahre abspielte.«

Rezeptfreie Medikamente sind ein Milliardengeschäft für die Pharmabranche, auch wenn sich viele Konzerne aus dem Geschäft damit zurückgezogen haben. Im Jahr 2022 wurde in den deutschen Apotheken mit rezeptfreien Arzneien, zu dem gängige Erkältungsmittel zählen, ein Umsatz von gut 7,7 Milliarden Euro erzielt. Das zeigen neue Daten des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller (BAH). Wesentlich mehr Erlös wurde zwar in den Apotheken mit verschreibungspflichtigen Medikamenten gemacht (61,7 Milliarden). Der Umsatz mit rezeptfreien Arzneien wuchs nach dem Corona-Tief aber kräftiger um 11,5 Prozent.

Das spürte auch Bayer. Im vergangenen Jahr habe es eine erhöhte Nachfrage bei einigen rezeptfreien Medikamenten in Deutschland gegeben, gerade bei Erkältungsarzneien. »Wir haben unsere Produktion für Erkältungsmittel entsprechend gestärkt«, so der Dax-Konzern.

Auch das Unternehmen Haleon, das aus einer Abspaltung der rezeptfreien Arzneien des britischen Pharmakonzerns GSK hervorging, verbuchte starke Geschäfte. Der Absatz von Nasensprays und -tropfen der Produktfamilie Otriven habe im vierten Quartal um rund 45 Prozent über Vorjahr gelegen. Noch besser sei das dritte Quartal gewesen.

Starke Zunahme bei Atemwegserkrankungen

Krankenkassen hatten 2022 ungewöhnlich hohe Ausfälle von Arbeitnehmern registriert. Im Schnitt fehlten Beschäftigte laut DAK Gesundheit fast 20 Tage krank bei der Arbeit - gut fünf Tage mehr als 2021. An jedem Tag des Jahres waren im Schnitt 55 von 1000 Beschäftigten krankgeschrieben, ein Rekord seit Beginn der Analyse vor 25 Jahren. Die meisten Ausfälle gingen auf Atemwegserkrankungen wie Erkältungen und Bronchitis zurück, die drastisch zunahmen.

Auch die Techniker Krankenkasse hatte von viel mehr Krankheitsausfällen bei Beschäftigten berichtet. Dabei spielten Erkältungswellen zu untypischen Zeiten mit ungewöhnlich hohen Ständen etwa im Juli und Oktober eine große Rolle. Und das Robert Koch-Institut (RKI) beobachtete in den Herbst- und beginnenden Wintermonaten 2022 ungewöhnlich viele akute Atemwegserkrankungen.

Angesichts der Krankheitswellen waren Kinderkliniken überlastet, Fiebersäfte für Kinder wurden knapp. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte angekündigt, mit Reformen im Erstattungssystem Anreize für Pharmaunternehmen zu schaffen, um die Produktion stärken.

Die große Nachfrage nach Arzneien gegen Atemwegserkrankungen setzt die Pharmaindustrie unter Druck. »Wir produzieren unter Auslastung aller verfügbaren Kapazitäten«, erklärte Teva Deutschland. Zudem sein man dabei, Personal aufzubauen. Wegen der Verfallsdaten ließen sich einige Arzneien aber nur bedingt auf Vorrat herstellen.

Unternehmen hatten die Krankheitswelle so heftig nicht erwartet. Nach den beiden Corona-Wintern seien alle in der Branche bei Lagerbestand und Produktion vorsichtig gewesen, hieß es beim Gelomyrtol-Hersteller Pohl-Boskamp. »Die Heftigkeit der Erkältungswelle und der Atemwegserkrankungen hat wohl alle Produzenten überrascht.«

© dpa-infocom, dpa:230210-99-543996/3