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Erstes Urteil: Wirecard-Bilanzen waren falsch

In einem Zivilverfahren gibt es das erste Urteil über die Buchführung des Skandalkonzerns Wirecard: Die Bilanzen waren falsch. Das hat große Bedeutung - nicht zuletzt für den angeklagten Ex-Vorstandschef Braun.

Markus Braun
Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Wirecard, Markus Braun, im Herbst 2020 vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestages. Foto: Fabrizio Bensch
Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Wirecard, Markus Braun, im Herbst 2020 vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestages.
Foto: Fabrizio Bensch

Das Landgericht München hat in einem Zivilverfahren die Bilanzen des Skandalkonzerns Wirecard der Jahre 2017 und 2018 für nichtig erklärt. Die Kammer gab am Donnerstag einer Klage des Insolvenzverwalters Michael Jaffé statt.

Nichtig sind damit auch die Dividendenbeschlüsse für die beiden Jahre. Grundlage der Klage waren die mutmaßlichen Scheinbuchungen, mit denen Wirecard-Manager die Bilanzen um erfundene Milliardenbeträge aufgebläht haben sollen.

Sollte das Urteil rechtskräftig werden, könnte der Insolvenzverwalter damit die von Wirecard für die beiden Jahre gezahlten Dividenden in zweistelliger Millionenhöhe von den Aktionären zurückfordern, ebenso von Wirecard gezahlte Steuern. Munition liefert das Urteil aber auch für die knapp 1000 Klagen empörter Aktionäre gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die die Wirecard-Bilanzen geprüft und testiert hatte.

Der Konzern war 2020 nach dem Eingeständnis von Scheinbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro zusammengebrochen, der frühere Vorstandschef Markus Braun sitzt seit bald zwei Jahren in Untersuchungshaft. Wirecard hatte 2017 und 2018 hohe Gewinne von zusammen mehr als 600 Millionen Euro ausgewiesen und einen zweistelligen Millionenbetrag an Dividenden ausgeschüttet.

Waren die vermissten 1,9 Milliarden Euro nur erfunden?

Die Münchner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die bis heute vermissten 1,9 Milliarden Euro frei erfunden waren. Der seit fast zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzende ehemalige Konzernchef Braun verteidigt sich dagegen mit dem Argument, die 1,9 Milliarden gebe es, das Geld sei aber andernorts verbucht gewesen.

Ob die fehlenden Milliarden nun existieren oder nicht, war für das Urteil gar nicht von Bedeutung, wie der Vorsitzende Richter Helmut Krenek erläuterte. Um die Bilanzen für nichtig zu erklären, genügte die Feststellung, dass das Geld nicht dort auffindbar war, wo es laut Wirecard verbucht war: auf Treuhandkonten in Singapur.

»Wenn es die Gelder gegeben hätte, hätten sie auch dort gefunden werden müssen«, sagte Krenek. »Wenn in zwei Jahren 1,9 Milliarden Euro fehlen, dann ist an der Wesentlichkeit des Fehlers eigentlich kein Zweifel anzunehmen.« Und weil die Wirecard-Bilanzen falsch waren, waren als »zwingende Folge« auch die Dividendenbeschlüsse der Hauptversammlungen 2018 und 2019 nichtig, wie der Vorsitzende weiter ausführte.

Die Aktionärsvereinigung DSW sieht mit dem Urteil gestiegene Erfolgschancen für die knapp 1000 Klagen gegen EY. Nach Argumentation von Ex-Wirecardchef Braun sei das Geld »irgendwo ganz anders«, sagte DSW-Vizepräsidentin Daniela Bergdolt nach der Urteilsverkündung. »Aber auch dann ist die Buchhaltung, die Buchführung von Wirecard grottenfalsch gewesen. Auch das hätten sie« - die EY-Prüfer - »dann merken müssen.«

Jaffè hatte in seiner Klage die Überbewertung der Wirecard-Bilanz im Jahr 2017 auf 743,6 Millionen und 2018 auf 972,6 Millionen Euro beziffert. Verklagt hatte der Insolvenzverwalter die Wirecard AG. Das Unternehmen existiert nur noch als rechtliche Hülle, die kein Geschäft betreibt und weder Vorstand noch Aufsichtsrat hat. Ansonsten ist der Konzern zerschlagen, der zeitweilig an der Frankfurter Börse einen dreistelligen Milliardenwert hatte.

Die Schlüsselfigur ist bis heute untergetaucht

Die Münchner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Braun und Komplizen mit Hilfe der falschen Bilanzen bei Banken und Investoren Milliarden erschwindelten. Braun hingegen sieht sich als Opfer von Betrügern im Unternehmen. Eine Schlüsselfigur des Skandals ist der frühere Vertriebsvorstand Jan Marsalek, der sich im Sommer 2020 absetzte und bis heute untergetaucht ist. Die Geschäftsberichte wurden sowohl von den Vorständen als auch von den Prüfern unterschrieben, die damit für die Richtigkeit der Zahlen bürgten.

Verbucht waren die vermissten 1,9 Milliarden Euro in den beiden Jahren angeblich bei der Bank OCBC in Singapur. Diese hatte nach Angaben der von Jaffé beauftragten Anwaltskanzlei offiziell bestätigt, dass das Geld dort nicht existierte.

Vorstandschef Braun sitzt seit Juli 2020 in Untersuchungshaft, im Juni steht die nächste Haftprüfung an. Im Strafverfahren prüft das Landgericht München derzeit die Anklage gegen Braun. Sollte die Anklage zugelassen werden, könnte der Strafprozess noch in diesem Jahr beginnen.

© dpa-infocom, dpa:220505-99-166227/3