Logo
Aktuell Wirtschaft

Diesel-Skandal ohne Ende: Investoren klagen gegen Mercedes

Bei der Dieselaffäre denken die meisten zuerst an VW. Doch auch gegen Mercedes zogen und ziehen Tausende Autobesitzer vor Gericht. Nun sind die Anleger an der Reihe - und fordern Hunderte Millionen.

Mercedes-Benz
Kursverluste wegen des Dieselskandals: Prozessauftakt gegen Mercedes in Stuttgart. Foto: Sebastian Gollnow/DPA
Kursverluste wegen des Dieselskandals: Prozessauftakt gegen Mercedes in Stuttgart.
Foto: Sebastian Gollnow/DPA

Im September 2015 wurde bekannt, dass Volkswagen bei den Abgaswerten seiner Diesel-Autos betrogen hat. Wenig später gab es auch erste Vorwürfe gegen Mercedes-Benz. Nun beginnt für den Stuttgarter Autobauer in der Affäre ein neues Kapitel: Zahlreiche Anleger werfen dem börsennotierten Unternehmen vor, sie nicht rechtzeitig über den Skandal informiert zu haben - und verlangen deshalb für entstandene Verluste Schadenersatz von insgesamt rund 900 Millionen Euro. Nun verhandelt das Oberlandesgericht Stuttgart eine Musterklage gegen den Autobauer.

Am ersten Verhandlungstag ging es hauptsächlich um Formalien und Organisation - inhaltliche Fragen wurden nur am Rande besprochen. Dafür sei das Verfahren zu komplex und zu dynamisch, sagte der Vorsitzende Richter Stefan Vatter. Der 20. Zivilsenat hatte die erste Sitzung von vornherein dafür angesetzt, um mit den Parteien unter anderem die Struktur des Verfahrens zu besprechen.

Durch Kursverluste entstandene Schäden sind Gegenstand der Klagen

Der Musterkläger in dem Prozess - ein Privatanleger - wird von der Kanzlei Tilp vertreten. Dem Verfahren haben sich nach Angaben der Tübinger Rechtsanwälte eine große Anzahl privater und mehr als 200 institutionelle Investoren angeschlossen. Darunter sind unter anderem Banken, Versicherungen und Pensionsfonds aus Deutschland, anderen Staaten der Europäischen Union, Nordamerika, Asien und Australien.

Das Verfahren auf Grundlage des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz bündelt viele einzelne Anleger-Klagen, die beim Landgericht Stuttgart eingegangen sind. Die Musterklage kann nun stellvertretend für alle verhandelt und das Ergebnis später auf sie übertragen werden.

Die klagenden Anleger werfen der Mercedes-Benz Group AG vor, ihre kapitalmarktrechtlichen Pflichten verletzt zu haben. Das Unternehmen habe die Verwendung von illegalen Abschalteinrichtungen in seinen Diesel-Fahrzeugen sowie die hiermit verbundenen Risiken und Kosten dem Kapitalmarkt verschwiegen und die Investoren über die wahren Umstände getäuscht. Zwischen dem 10. Juli 2012 und dem 20. Juni 2018 sei der Aktienkurs der früheren Daimler AG von mehr als 90 Euro auf unter 60 Euro gefallen. Die durch Kursverluste entstandenen Schäden sind demzufolge Gegenstand der Klagen.

An der Börse notierte Unternehmen sind dazu verpflichtet, Tatsachen unverzüglich zu veröffentlichen, die den Kurs ihrer Aktie erheblich beeinflussen können - egal, ob nach oben oder nach unten. So sollen Anleger größtmögliche Transparenz über Entwicklungen innerhalb des Unternehmens bekommen und Insiderhandel verhindert werden.

Autobauer: »Halten Ansprüche für unbegründet«

Mercedes-Benz stellte sich klar gegen die Vorwürfe: »Wir halten die Ansprüche für unbegründet«, sagte ein Sprecher. Das Unternehmen sei seinen kapitalmarktrechtlichen Publizitätspflichten ordnungsgemäß nachgekommen. »Unsere Kommunikation zum Thema Diesel entsprach zu jedem Zeitpunkt unserem jeweils vorliegenden Wissensstand«, sagte er.

Die mündliche Verhandlung in dem Musterverfahren soll frühestens nach Ostern fortgesetzt werden - und könnte sich über Jahre hinziehen. Das zeigt auch ein Beispiel aus Niedersachsen: In einem ähnlichen Prozess gegen den VW-Konzern und die Dachholding Porsche SE wird aktuell um Schadenersatz für Investoren gestritten, die nach dem Auffliegen der Diesel-Affäre bei VW Kursverluste in Milliardenhöhe erlitten. Das Verfahren geht seit 2018 nur schleppend voran. Bis zu einer möglichen Entscheidung will das Oberlandesgericht Braunschweig noch Dutzende Zeugen hören und eine Vielzahl von Dokumenten sichten.

Seit Jahren mit Abgas-Vorwürfen beschäftigt

Mercedes muss sich seit Jahren mit Abgas-Vorwürfen auseinandersetzen. Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) hatte 2018 und 2019 gegen insgesamt mehrere Hunderttausend Fahrzeuge des Herstellers Rückruf-Bescheide wegen einer unzulässigen Abgastechnik erlassen. Konkret geht es um technische Einrichtungen, die die Abgasreinigung einschränken.

Relevant bei Mercedes sind in diesem Kontext sogenannte Thermofenster und die Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung (KSR). Erstere Technik, die auch von anderen Herstellern standardmäßig eingesetzt wurde, sorgt dafür, dass die Fahrzeuge weniger giftige Stickoxide ausstoßen. Dafür wird ein Teil der Abgase direkt im Motor verbrannt. Ist es draußen kalt, wird dieser Mechanismus aber automatisch gedrosselt. Die Hersteller sagen, das sei notwendig, um den Motor zu schützen. Bei der KSR führt hingegen die verzögerte Erwärmung des Motoröls zu einem geringeren Ausstoß von Schadstoffen. Der Vorwurf hier lautet, dass die Technik fast ausschließlich auf dem Prüfstand funktioniere.

Der Stuttgarter Autobauer muss seit Bekanntwerden des Skandals und den KBA-Rückrufen immer wieder vor Gericht. 2019 war der Konzern wegen der Diesel-Verwicklungen zu einer Strafe von 870 Millionen Euro verdonnert worden. Außerdem gab es millionenschwere Vergleiche im Ausland und mehrere Strafbefehle gegen Mercedes-Mitarbeiter.

Auch zahlreiche Verbraucher waren in diesem Zusammenhang vor Gericht gezogen. In Deutschland gab es bisher mehr als 30.000 Klagen. Hinzu kommen Sammelklagen in anderen Ländern. Nach Grundsatzurteilen des Europäischen Gerichtshofs und des Bundesgerichtshofs können sich Verbraucher hierzulande begründete Hoffnung auf Schadenersatz machen. In Stuttgart soll etwa im März die Entscheidung im Verfahren um eine Musterfeststellungsklage von mehr als 2800 Autobesitzern fallen.

© dpa-infocom, dpa:230927-99-347229/5