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Wiesn in Zeiten der Krisen: »Visitenkarte für Lebensfreude«

In München herrscht wieder Ausnahmezustand: Es ist Oktoberfest. Auch Prominente feiern mit - und die Politik. Gelöste Stimmung, Sonne, wolkenloser Himmel - und nur ein kleiner Schatten.

Oktoberfest
Live Blasmusik wird am traditionellen Fahrgeschäft »Krinoline« gespielt. Foto: Karl-Josef Hildenbrand/DPA
Live Blasmusik wird am traditionellen Fahrgeschäft »Krinoline« gespielt.
Foto: Karl-Josef Hildenbrand/DPA

Menschen festlich in Dirndl und Lederhose, blumengeschmückte Brauereigespanne, Pferdeäpfel auf den Straßen der Innenstadt. In München hat das Oktoberfest begonnen. Gelöste Stimmung bei den Veranstaltern, bei Wirten Schaustellern und Gästen, die dieses Jahr erstmals seit der Pandemie zahlreich auch wieder aus dem Ausland angereist sind. Anders als noch im Vorjahr sorgt sich niemand mehr groß um Corona. Dazu Sonne und wolkenlos blauer Himmel - ein optimaler Wiesn-Start.

Auch die Energiekrise scheint vergessen. Anders als im Vorjahr, als die Wirte sich gemeinsam auf einen Verzicht auf Heizstrahler an den Biergärten geeinigt hatten, ist mancherorts zu lesen: »Beheizter Biergarten«. Sorgen wegen Klimawandels, Inflation, Ukrainekriegs - das alles scheint ausgeblendet.

»Der Wunsch der Menschen zu feiern, ist groß«, sagt Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD), der als Stadtoberhaupt Punkt 12.00 Uhr mit dem Anstich des ersten Fasses das Volksfest eröffnet. »Wenn wir das Oktoberfest nicht machen würden: Dadurch würde kein Regentropfen weniger fallen.« Wichtig sei zu helfen, wo es möglich sei - und dass die Hilfe ankomme. Er habe den Eindruck, dass es das »seit Jahren fröhlichste Oktoberfest« werden könne.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagt, die Menschen brauchten auch das Feiern. »Es braucht Lebensfreude, um Kraft zu tanken.« Und: »Wir sind die Visitenkarte für Lebensfreude.« Mit Blick auf den strahlend-sonnigen Tag kreierte er gleich statt Kaiserwetter einen neuen Begriff: »Ministerpräsidentenwetter«.

Landtagswahlen spielen keine Rolle

Anders als auf anderen Volksfesten - etwa dem Gillamoos in Niederbayern mit den traditionellen politischen Bierzeltreden - soll die Wiesn wahlkampffreie Zone bleiben. Die Betriebsvorschriften verbieten politische Veranstaltungen einschließlich Wahlkampf. Doch drei Wochen vor der Landtagswahl in Bayern am 8. Oktober ist das nicht ganz einfach. Schließlich feiert traditionell auch die Polit-Prominenz auf dem Oktoberfest.

Söder wendet sich auf großer Bühne beim live im Fernsehen übertragenen Anstich im Schottenhamel mit einer politischen Forderung an die Bierzeltbesucher und das Fernsehpublikum: Die »Gastrosteuer« dürfe nicht erhöht werden, sagt er. »Ich finde, Essen und Trinken ist eh schon zu teuer. Keine Erhöhung für Steuern auf Essen und Getränke«, ruft er den Menschen im Festzelt zu - und holt sich Applaus ab.

Die Mehrwertsteuer auf Speisen in der Gastronomie war während der Pandemie von 19 auf 7 Prozent gesenkt worden. Wie es Ende 2023 weitergeht, ist offen. Er habe das Thema angeschnitten, »weil es halt passt«, erläutert Söder später. »Die Wiesn ist eh schon teuer, aber sie soll noch für alle, für jeden normalen Bürger leistbar bleiben.«

Reiter, der mit der ersten Maß auf eine friedliche Wiesn anstößt, sagt dagegen, Steuerentscheidungen fielen nicht im Bierzelt - und für diese sei die Bundesregierung zuständig. Söder dürfe natürlich seine Meinung sagen. Er sei »im Wahlkampftunnel« und habe das wahrscheinlich nicht ganz ausblenden können.

Auf der Wiesn zeigen sich auch SPD-Bundeschef Lars Klingbeil und Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne). Auch Söders Vize-Regierungschef Hubert Aiwanger (Freie Wähler) kommt ins Schottenhamel-Zelt.

Trotz Skandal: Selfies mit Aiwanger sind begehrt

Danach entkorkt der Wirtschaftsminister - eine Nummer kleiner als Reiter, der ein 200-Liter-Fass ansticht - in »Bodo's Cafézelt« mit der fränkischen Weinkönigin eine Flasche Wein. Er werde derzeit so oft um Selfies gebeten »wie noch nie« - auch auf der Wiesn, sagt Aiwanger, der in den vergangenen Wochen wegen eines antisemitischen Flugblatts als Schüler in seiner Schultasche unter Beschuss gekommen war.

Eindrücke, wonach CSU-Politiker sich eher nicht gemeinsam mit ihm auf der Wiesn zeigen wollten, kommentiert Aiwanger am Samstag so: »Ob ein CSU'ler mit mir auf ein Foto will oder nicht«, das interessiere ihn weniger. »Wichtig ist, dass die Leute ein Selfie machen wollen.«

Klimaneutralität als großes Ziel

Auch politisch und präsent ist das Thema Nachhaltigkeit. Die Wirte haben ein ehrgeiziges Ziel: Die großen Festzelte sollen binnen fünf Jahren klimaneutral werden, wenn möglich sogar schon 2026. Nach einer Debatte, ob die Wiesn nur mit Bio-Produkten oder zumindest einer Bio-Quote möglich sein kann, bietet das Paulaner-Festzelt erstmals probeweise nur Bio-Hendl an. In jedem Zelt soll es mindestens ein veganes Gericht geben - zudem mehr vegetarische Gerichte. Inzwischen gibt es - nach einer viel diskutierten veganen Weißwurst im Vorjahr - an Buden auch veganen Leberkäse.

In den Zelten schleppen Bedienungen wie eh und je Wiesn-Hendl dutzendweise an. Söder, der selbst keinen Veggie-Leberkäse und auch kein Tofu-Hendl essen möchte, hat hier jenseits der Gastro-Steuer einen Gastro-Tipp für die Festgäste: Jeder solle »essen was er will - und trinken so viel er verträgt«.

Das gelingt nicht jedem. Um 15.38 Uhr meldet nach Angaben einer Wiesn-Sprecherin die Oktoberfest-Sanitätsstation einen jungen Mann als ersten Patienten mit »alkoholbedingtem Totalausfall«.

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© dpa-infocom, dpa:230916-99-218799/2