Hendrik Streeck (45) sieht einfach toll aus, das muss man sagen. In der strahlend weißen Kapitänsuniform, in die er sich an diesem Samstagabend geworfen hat, würde er Florian Silbereisen als Traumschiff-Kapitän ohne weiteres ausstechen. »Love« steht auf der goldenen Kette, die er um den Hals trägt. Neben ihm steht sein Mann Paul Zubeil als Magier. Und beide strahlen.
Professor Streeck ist an diesem Abend ganz Privatmann - und doch auch wieder nicht. Denn der Ort, an dem der Virologe wenige Tage vor Beginn der tollen Tage Karneval feiert, ist, wie er es ausdrückt, »ein Ort mit Geschichte«. Es ist sozusagen der Ground Zero der Corona-Pandemie: die Große Kappensitzung des Karnevalvereins Langbröker Dicke Flaa im Bürgertreff Gangelt-Langbroich - jenes Ereignis, das sich 2020 als erstes Corona-Superspreader-Event in Deutschland entpuppte. Ein Bierkranz und Getränkebons von der legendären Sitzung befinden sich mittlerweile im Haus der Geschichte.
Fast die Hälfte der etwa 450 Teilnehmer hatte sich bei der fünfstündigen Feier mit dem damals noch mysteriösen Virus infiziert. In der Folge kam es im Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen direkt an der Grenze zu den Niederlanden zum ersten großen Corona-Ausbruch in Deutschland. Das winzige Örtchen stand dadurch von einem Tag auf den anderen im Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Fernsehteams zogen durch die Straßen, in sozialen Netzwerken wurde über die Feiernden abgelästert, nach dem Motto: Jetzt haben wir hier diese Seuche, weil sich die da beim Karneval nicht benehmen konnten.
Kappensitzung als Anlass für erste große Corona-Feldstudie
»All die Gerüchte, die damals gestreut worden sind - ganz furchtbar«, sagt eine Frau, die ihren Namen nicht nennen will. »Wir kennen den angeblichen Patienten Null, und was ihm nachgesagt wurde, das ist eine Schweinerei.« Er habe sich absolut nicht unverantwortlich verhalten.
Es ist letztlich Streeck gewesen, der die Gangelter rehabilitiert hat. Anfangs von vielen misstrauisch beäugt, nahm der Bonner Wissenschaftler die Kappensitzung zum Anlass für eine erste große Feldstudie zu Corona, die »Heinsberg-Studie«. 2021 veröffentlichte er eine weitere Untersuchung mit dem Ergebnis, dass eine schlechte Belüftung die Verbreitung des Virus bei der Feier begünstigt hatte. Alkoholkonsum bestätigte sich dagegen nicht als Risikofaktor. All jene Spekulationen, wonach die Feiernden dem Ausbruch der Seuche durch alkoholbedingt enthemmtes Verhalten Vorschub geleistet haben könnten, wurden mithin widerlegt.
»Wenn man die letzten drei Jahre nochmal Revue passieren lässt, sieht man ja, wie leicht diese Übertragungen sind«, gibt Streeck zu bedenken. »Da hätte es gar keine Karnevalsfeier geben müssen. Natürlich sind die eher schon auch prädestiniert für so ein Superspreading-Event, aber das hätte überall sein können. Dass es gerade hier in Gangelt gewesen ist, das war Zufall, und man kann von Glück sagen, dass es damals nicht im Kölner Karneval gewesen ist, das wären ganz andere Ausmaße gewesen.«
Streeck: Wichtig, einen Schlussstrich zu ziehen
Mittlerweile hat der Experte in Gangelt Freundschaften geschlossen. »Mich hat es sehr gefreut, eingeladen worden zu sein«, sagt er der Deutschen Presse-Agentur. »Für mich ist es ein bisschen ein Abschluss der Pandemie. Es ist nicht komplett unbeschwert, aber es ist in meinen Augen auch wichtig, einen Schlussstrich zu ziehen.« So sieht es auch der Heinsberger Landrat Stephan Pusch, der durch sein Krisenmanagement in der Corona-Krise bundesweit bekannt geworden ist. »Es schließt sich schon irgendwo ein Kreis heute«, sagt der CDU-Politiker im Pfarrerskostüm. »So ist das im Leben: Freude und Leid gehören eng zusammen.« Für ihn bedeute die Feier den »Start in eine neue Normalität«. Die Leute würden jetzt wieder unbeschwert feiern, und »das ist auch gut so«.
Anja ist so eine, der die Vorfreude an diesem Abend im Gesicht geschrieben steht. Sie war auch bei der berüchtigten Sitzung vom 15. Februar 2020 dabei. Mit was für einem Gefühl kommt sie jetzt hierher? Für die Antwort muss sie keinen Moment überlegen: »Mit demselben freudigen Karnevalsgefühl wie immer.«
Am Ende hat er natürlich den Hausorden des Karnevalsvereins Dicke Flaa bekommen. Ist er jetzt auf dem besten Weg, Karnevalist zu werden? »Ich habe auf jeden Fall Spaß gehabt«, sagt er lachend. »Was nicht ist, kann ja noch werden.«
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