Khoi sitzt geduldig in seinem Futtergehege und wartet auf Leckerlis seiner Pflegerin. Als sie kommt, richtet sich der große Asiatische Schwarzbär auf und frisst Tierschützerin Emily Lloyd aus der Hand.
Im Bärenwald nahe der Stadt Ninh Binh im Norden Vietnams darf sich Khoi endlich von den Qualen früherer Jahre erholen. Er wirkt ruhig, aber die deutlich sichtbare Narbe auf seinem Kopf sowie das unberechenbare Verhalten vieler Artgenossen in der Auffangstation sind ein deutliches Zeichen für das schreckliche Martyrium, das die Tiere in der Vergangenheit durchlitten haben.
Die 45 Bären in dem von der Organisation Vier Pfoten International betriebenen »Bear Sanctuary« sind Überlebende der grausamen Bärengalle-Industrie in dem südostasiatischen Land. Farmen, auf denen die Tiere - die auch als Kragenbären oder Mondbären bekannt sind - in viel zu engen Metallkäfigen dahinsiechen, waren lange überall verbreitet. Häufig wurden sie als Babys angeliefert, nachdem Wilderer ihre Mütter getötet und die Jungen gefangen hatten. Die Bären leiden nicht nur körperlich, sondern auch psychisch ihr Leben lang.
Traditionelle chinesische Medizin und Bärengalle
Bei dem gnadenlosen Geschäft geht es um die traditionelle chinesische Medizin (TCM) und den Glauben, dass bestimmte tierische »Zutaten« verschiedenste Leiden lindern können. Auch in Europa kommt der Saft Berichten zufolge in TCM-Arzneien vor. Bärengalle enthält Ursodesoxycholsäure (UDCA). Studien zufolge kann UDCA tatsächlich als Arzneistoff bei der Auflösung kleiner Gallensteine und diverser Lebererkrankungen helfen. Jedoch gibt es pflanzliche und synthetische Alternativen.
Dennoch setzen viele Asiaten schon lange auch bei anderen Beschwerden auf Bärengalle - etwa bei Erkältungen, Prellungen oder Gelenkschmerzen. Deshalb die riesige Nachfrage. »Die Anwendung breitete sich schnell auf andere Bereiche aus, etwa bei der Krebsbehandlung oder zur Schmerzlinderung, wofür es aber keinerlei wissenschaftliche Beweise gibt«, sagt Harold Browning, Tierschutzberater bei Animals Asia.
Ursprünglich wurde Bärengalle nur aus den Gallenblasen einiger wilder Bären gewonnen. Aber als in den 1990er Jahren die Nachfrage stieg, schossen in ganz Vietnam - sowie anderen Ländern der Region - Farmen aus dem Boden, auf denen neben Asiatischen Schwarzbären auch Malaienbären (Sonnenbären) gehalten wurden. Beide Arten werden von der Weltnaturschutzunion (IUCN) als »gefährdet« eingestuft.
»Wenn die Bären zu uns kommen, leiden sie meist unter einer ganzen Reihe gesundheitlicher Probleme, insbesondere Gallenblaseninfektionen und Entzündungen, die sie für den Rest ihres Lebens beeinträchtigen«, erzählt Vier-Pfoten-Mitarbeiterin Lloyd. Zudem litten sie häufig unter Lebererkrankungen, Bluthochdruck und Nierenproblemen. »Es dauert jeden Tag eine Stunde, bis wir ihre Medikamente für den nächsten Tag vorbereitet haben«, sagt Lloyd.
Im Bärenwald haben die geretteten Tiere Zugang zu halbnatürlichen Innen- und Außengehegen. Nachdem sie jahrelang in engen Käfigen eingesperrt waren, können sie nun artgerecht in Wasserbecken planschen, in der Sonne dösen, auf Plattformen klettern, nach Nahrung suchen oder sich in Bärenhäusern mit Innenhöhlen verstecken.
Barbarische Zustände in der Bärengalle-Industrie
Die Zustände auf den Farmen sind hingegen barbarisch. Den Bären wird ihr Gallensaft abgezapft, indem regelmäßig die Gallenblase mittels einer Nadel direkt durch die Bauchdecke punktiert wird. Zwar werden sie zumeist betäubt, aber unsachgemäß und meist nur schwach. Die Folge: Bei der Prozedur erleiden sie unvorstellbare Schmerzen.
Die Käfige sind oft kaum größer als die Tiere selbst. Manche Bären können sich nicht einmal ausstrecken. Die furchtbaren Haltungsbedingungen sowie falsche Ernährung und Bewegungsmangel führten zu Mobilitätsproblemen, Muskelschwund und Fettleibigkeit, heißt es auf der Webseite von Vier Pfoten. Aufgrund der ständigen Langeweile oder um der Pein irgendwie zu entkommen, kauten Gallebären auch oft an den Käfigstangen und brächen sich dabei die Zähne ab.
Manche Farmer glauben dabei selbst gar nicht an die Wirksamkeit des begehrten Saftes. »Ich weiß nicht, ob Bärengalle anderen hilft, aber bei mir habe ich keinen Effekt gesehen, mein Gesundheitszustand hat sich nach der Einnahme nicht verbessert«, sagte Huynh Van Trien, der in den 1990er Jahren fünf Bären für seinen Betrieb in der Provinz Long An gekauft hatte. Vier sind inzwischen tot, den letzten Überlebenden hat Trien vor kurzem an ein Wildschutzgebiet abgegeben.
Hoffnung auf das Ende der Bärengalle-Industrie
Tierschützer hoffen, dass die Behörden die Bärengalle-Industrie schon bald komplett dichtmachen. Bereits 2005 hatte Vietnam den Verkauf und die Gewinnung von Bärengalle unter Strafe gestellt. Bis 2025 soll es nach den Plänen der Regierung keine Bärenfarmen im Land mehr geben. Bis jetzt ist es aber immer noch erlaubt, Bären zu halten, solange sie vor 2005 registriert wurden. Diesbezügliche Kontrollen und Strafverfolgung wurden aber lange sehr lax gehandhabt.
Dennoch: Die Zahl der Gallebären ist deutlich gesunken. Im Mai 2023 gab es laut Vier Pfoten landesweit noch 228 Bären auf den notorischen Farmen, davon die Hälfte in der Hauptstadt Hanoi. Zum Vergleich: 2005 waren es noch 4500 Bären. »Obwohl es sich um ein riesiges Unterfangen handelt, wird das Ende der Bärenfarmen in Vietnam ein klares Signal an andere Regionen senden«, ist Tuan Bendixsen überzeugt, Direktor von Animals Asia Vietnam. »Diese Industrie kann beendet werden, wenn wir alle zusammenarbeiten.«
Noch aber geht das Grauen für viele Tausend Gallebären in Asien weiter, unter anderem in Laos und Myanmar. Spitzenreiter ist aber China, wo Schätzungen zufolge mehr als 10.000 Tieren täglich Galle abgezapft wird.
© dpa-infocom, dpa:230914-99-189409/2