Giuseppe Beltrame steht im Vorgarten seines Häuschens und kann es nicht fassen. Bis zu den Schienbeinen reicht ihm der Schlamm, den die extremen Regenfälle durch den Ort Faenza geschwemmt haben. Beltrame zeigt auf die Hausmauer und einen braunen Strich in etwa zweieinhalb Metern Höhe - so hoch stand das Wasser, als er mit seiner Frau und dem Hund am frühen Mittwochmorgen von Rettungsteams im Schlauchboot evakuiert worden war.
Heute kehrte Beltrame erstmals zurück und sieht die Verwüstung: Tische, Stühle, Kommoden liegen im Wohnzimmer auf dem Boden. Der Kühlschrank in der Küche ist umgekippt. Alles ist voller Schlamm. Beltrame kommen die Tränen.
Zahl der Toten steigt
Nach den Unwettern und schweren Überschwemmungen, die die Region Emilia-Romagna in Norditalien zu Wochenbeginn heimgesucht hatten, beginnen am Donnerstag viele mit den Aufräumarbeiten. Es überwiegt Fassungslosigkeit. Innerhalb von knapp zwei Tagen fiel an manchen Stellen so viel Regen wie normalerweise in einem halben Jahr. Inzwischen stieg die Zahl der Toten auf 13, nachdem am Donnerstag unter anderem die Leichen einer Frau und eines Mannes in dem Ort Russi in der Provinz Ravenna gefunden wurden, wie die Nachrichtenagenturen Ansa und Adnkronos meldeten. Manche Politiker nehmen den Ausdruck »Apokalypse« in den Mund.
Giuseppe Beltrame hatte gehofft, im ersten Stock des Reihenhäuschens ausharren zu können. Am Dienstagmorgen gegen drei Uhr, als das Erdgeschoss bereits unter Wasser stand, holte der Zivilschutz aber auch ihn ab. »Drei Familien in dieser Straße mussten vom Helikopter weggeflogen werden«, erzählt er und zeigt die Via Don Giovanni Verità hinunter.
Dort steht nun Federica Pizzuto und weint. Auch sie sieht erstmals, was das Wasser mit ihrem gerade frisch renovierten Haus angestellt hat. »Wir wollten Ende Mai einziehen. Die neuen Möbel sind schon drin, eine neue Küche ebenfalls«, erzählt sie und versteckt die Tränen hinter einer großen Sonnenbrille.
Faenza in der Provinz Ravenna ist eine der am stärksten betroffenen Gemeinden. Mindestens 23 Flüsse traten nach Behördenangaben in der ganzen Region über die Ufer. Der Lamone fließt durch Faenza, bei den vorigen Unwettern Anfang Mai hatten die Dämme noch gehalten. »Keinen Tropfen« bekam damals Giuseppe Beltrame ab, wie er sich erinnert.
Auf Dürre folgte starker Niederschlag - zu viel für die Böden
In Norditalien herrschte in den vergangenen Monaten eine große Dürre und Trockenheit. Die plötzlichen und sintflutartigen Regenfälle konnte der Boden dann nicht aufnehmen, erklärt Regionalpräsident Stefano Bonaccini. »Außerdem wurden die Flussbetten seit vielen Jahren nicht gereinigt. Kein Wunder, dass das Wasser nicht abfließen konnte!«, schimpft ein Passant, als er an den Häusern von Beltrame und Pizzuto vorbeiläuft. »Die Verantwortlichen gehören bestraft!«
Wegen der Überschwemmungen brach in vielen Teilen der Region das Strom- und Mobilfunknetz zusammen. Auch viele Trinkwasserleitungen wurden in Mitleidenschaft gezogen. In Castel Bolognese, gut fünf Kilometer von Faenza entfernt, steht ein Tankwagen der Feuerwehr vor der Sporthalle und verteilt Trinkwasser. Leute mit Plastik- und Glasflaschen stehen an, um sich Wasser zu holen und mit nach Hause zu nehmen. »Zum Trinken und zum Kochen«, erklärt ihnen eine Helferin.
Drinnen in der Halle sind Dutzende Feldbetten aufgebaut. Knapp 80 Evakuierte haben in der Nacht auf Donnerstag hier geschlafen, darunter etliche alte Menschen, die nicht bei Freunden oder Verwandten untergekommen sind. Auch in der Nacht auf Freitag werden wieder viele Gäste erwartet, sagt eine Frau vom Zivilschutz. Auf den Tribünen der Halle haben Soldaten ihre Matratzen und Rucksäcke liegen, auch das italienische Heer hilft nach der Naturkatastrophe.
Die Anteilnahme ist groß in dem Mittelmeerland. Alle anderen Regionen schickten Helfer, Experten und Gerätschaften in die Emilia-Romagna und in die Marken, wo es ebenfalls zu Überschwemmungen gekommen war. Regionalpräsident Bonaccini bezifferte die Schäden auf einige Milliarden Euro, wie er am im italienischen Fernsehen sagte.
Von der Regierung forderte er schnelle Hilfe. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni sicherte ihm diese aus Japan, wo sie am G7-Gipfel teilnimmt, auch zu. Papst Franziskus teilte in einem Telegramm an den Erzbischof von Bologna mit, dass er »Trost für die Verletzten und diejenigen, die unter den Folgen des schweren Unglücks leiden«, erflehe.
Das Auswärtige Amt hatte unterdessen deutsche Reisende oder in Italien lebende Deutsche auf die Gefahren durch Überschwemmungen und Erdrutsche hingewiesen. Man solle die aktuelle Lage in den lokalen und sozialen Medien verfolgen sowie Anweisungen der lokalen Behörden unbedingt Folge leisten.
Forderung nach besseren Schutzkonzepten
Der italienische Zivilschutz-Minister Nello Musumeci betonte, dass aufgrund der immer extremeren Wetterlagen - Trockenheit auf der einen und Unwetter auf der anderen Seite - ganz neue Konzepte hermüssten, um bewohnte Gebiete sicherer zu machen. Acht bis zwölf Monate könne es dauern, bis solche Pläne ausgearbeitet sind, sagte der Minister.
Dabei ist schon für die nächsten Tage neuer Regen angekündigt in den Gegenden rund um die betroffenen Städte wie Faenza, Ravenna, Forlì und Cesena. Giuseppe Beltrame steht in seinem Wohnzimmer im Schlamm, schüttelt den Kopf und nimmt dann einen Topf mit Blumen in die Hand, der einigermaßen unversehrt geblieben ist. »Vielleicht ein Zeichen des Neubeginns...«, meint er. Dabei hat er Tränen in den Augen.
Auch Balkanländer sind von Überschwemmungen betroffen
Nicht nur Italien leidet unter den Wassermassen, auch in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien kam es in Folge starker Regenfälle zu Überschwemmungen. In der kroatischen Kleinstadt Sisak, 60 Kilometer südlich von Zagreb, trat der Fluss Save über die Ufer und überschwemmte am Donnerstag die Ställe eines Vereins für therapeutisches Reiten. Alle Pferde konnten unverletzt in Sicherheit gebracht werden, berichtete das kroatische Fernsehen HRT.
Mit Hochwasser kämpften in den letzten Tagen auch die kroatischen Ortschaften Karlovac, Petrinja, Hrvatska Kostajnica, Gracac und Obrovac. Opfer gab es keine. Als schwierig wurde die Lage auch im Nordwesten Bosniens beschrieben. Die Flüsse Una und Glina richteten Überschwemmungen in den Städten Bihac, Velika Kladusa und Bosanska Krupa an. In Novi Sad, der Hauptstadt der nordserbischen Provinz Vojvodina, standen am Mittwochabend einige Innenstadt-Boulevards unter Wasser. Es kam zu einem Verkehrschaos und mehreren Unfällen.
© dpa-infocom, dpa:230518-99-735082/9