Was seine Komplizen da trieben, in Polen, davon will er nichts mitbekommen haben, sagt der 43-Jährige. Er sei lediglich in Deutschland als »Kurierfahrer« unterwegs gewesen, habe Geld abgeholt und weitergegeben - ganz seriös, mit Arbeitsvertrag sogar, erzählt er am Freitag vor dem Landgericht München I. Dort sitzt er als Angeklagter, Vorwurf: gemeinschaftlicher gewerbsmäßiger Bandenbetrug.
Laut Staatsanwaltschaft war der Mann Teil einer Bande, die sich auf sogenannte Schockanrufe spezialisiert hat. Das Schema: Betrüger rufen bei älteren Menschen an und spielen ihnen eine extreme Situation vor. Am Anfang schluchzt oft eine junge Frau ins Telefon, sagt etwa: »Hallo Mama. Ich hatte einen schrecklichen Autounfall«, wie in einem Anruf, den die bayerische Polizei mitgeschnitten hat.
Dann übernimmt ein angeblicher Polizist oder Staatsanwalt das Gespräch, redet auf die Angerufenen ein, droht, dass der Verwandte wegen eines selbst verursachten Unfalls in Untersuchungshaft müsse. Außer, es wird eine Kaution von mehreren Zehntausend Euro gestellt, zu übergeben an einen Kurier. In den vergangenen Jahren hat diese extreme Weiterentwicklung des altbekannten Enkeltricks deutlich zugenommen.
Sechsstellige Geldbeträge
Am Donnerstag fiel eine Seniorin aus Garmisch-Partenkirchen auf die Masche herein. Sie gab einem Geldabholer Bargeld und Goldschmuck, laut Polizei ein Wert im sechsstelligen Bereich. Vorausgegangen war ein Telefonat, in dem ein angeblicher Staatsanwalt und eine scheinbare Angestellte des Amtsgerichts die ältere Frau bearbeitet hatten. Am selben Tag nahmen Ermittler im niederbayerischen Landkreis Straubing-Bogen zwei Abholer in einem anderen Fall fest - das Opfer des Anrufs hatte den Trick durchschaut und die Polizei verständigt.
Die Bande des 43-Jährigen, der in München vor Gericht steht, erbeutete laut Anklage gut 50.000 Euro. Die Gruppe nahm im November vergangenen Jahres in sieben Fällen Menschen aus Bayern, Baden-Württemberg und dem Saarland ins Visier. Bereits seit Montag muss sich zudem ein 21-Jähriger vor dem Landgericht München II verantworten, der als Abholer für eine kriminelle Vereinigung weit über 200 000 Euro von zwei älteren Menschen in Stuttgart und Österreich in Empfang genommen haben soll.
Das entscheidende Element der Telefonate: die vorgetäuschte extreme Notlage. »Die emotionale Betroffenheit, die die Opfer verspüren, ist wirklich heftig«, sagt Juliane Lomb, stellvertretende Leiterin des Referats für Wirtschaftskriminalität beim Bundeskriminalamt. Den Angerufenen wird eine nahezu perfekte Show geliefert, mit weitaus mehr Druck als beim seit Langem praktizierten sogenannten Enkeltrick. Im Mitschnitt der bayerischen Polizei etwa sagt die Frau am Telefon mit tränenerstickter Stimme: »Ich wurde festgenommen. Ich habe eine Frau überfahren.« Lomb sagt: »Wenn der vermeintliche Angehörige am Telefon mit weinerlicher Stimme agiert, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer die Geschichte glaubt, viel höher.«
Vom Ausland aus gesteuert
Die Täter handeln nach Erkenntnis der Polizei vorwiegend aus dem Ausland. Das Bundeskriminalamt hat Polen, Tschechien und Großbritannien als Schwerpunkte ausgemacht. Vor Ort läuft nur die Abholung von Geld und Sachwerten ab, die dann schnell über die Grenze gebracht werden. Die Opfer sitzen in ganz Deutschland und auch in Nachbarländern. Einzelne Regionen, in denen sich die Arbeit eines Abholers bündeln lässt, sind wellenartig betroffen.
Die Telefonnummern besorgten sich die Kriminellen oft aus dem Telefonbuch, doch auch im Darknet kursierten Listen mit Kontaktdaten möglicher Opfer, sagt Juliane Lomb vom Bundeskriminalamt. Wer selbst einen Anruf erhält, in dem die Polizei Bargeld verlangt, der solle gleich auflegen und den Notruf wählen. Die Ermittlerin geht allerdings davon aus, dass viele Fälle der Polizei gar nicht bekannt werden. Häufig würden Opfer den Betrug nicht anzeigen: Sie schämten sich, dass sie auf den Trick hereingefallen sind.
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