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Türkei: Die verzweifelte Suche nach Erdbebenopfern

Drei Monate nach den schweren Erdbeben suchen Menschen im Südosten der Türkei weiter nach Angehörigen, die niemals aus den Trümmern geborgen wurden. Ihr Verschwinden wirft Rätsel auf.

Ali Mursaloglu
Er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben: Ali Mursaloglu. Foto: Anne Pollmann
Er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben: Ali Mursaloglu.
Foto: Anne Pollmann

Ali Mursaloglu braucht seit ein paar Wochen eine ganze Menge Whiskey, um zumindest ein paar Stunden schlafen zu können. Er ist Vater, Opa und Schwiegervater von Menschen, die es vielleicht nicht mehr gibt.

Seit vor drei Monaten die Erdbeben in der Türkei auch Mursaloglus Haus zerstört haben, sind sein Sohn, seine Schwiegertochter und deren zweieinhalbjährige Tochter Ada wie vom Erdboden verschluckt. Sein Handy lässt der 67-Jährige seitdem nicht aus den Augen. »Sie könnten ja jeden Moment anrufen«, denkt er seit zwölf Wochen. Der Schmerz steht dem Mann mit dem zotteligen Bart und den geschwollenen Augen ins Gesicht geschrieben.

Am 6. Februar erschüttert um 4.17 Uhr ein Beben der Stärke 7,7 den Südosten der Türkei, ein weiteres der Stärke 7,6 folgt um 13.24 Uhr. Besonders in der rund 200 Kilometer von den Epizentren entfernten Stadt Antakya ist die Zerstörung verheerend. Die Stadt ist auf Schwemmland gebaut, eine schlechte Voraussetzung bei Erdbeben. Ali Mursaloglu weiß das, sein Haus hat er vor drei Jahren testen lassen, den Bau des Hauses selbst beaufsichtigt und sichergestellt, dass dem Boden entsprechend gebaut wird. »Ich habe immer gesagt: Hier kann alles zusammenbrechen, unser Haus ist stabil«, sagt er. Standgehalten hat es trotzdem nicht.

Keine Spur von den Vermissten

Von dem Beben erfährt der Geschäftsmann Mursaloglu in Istanbul, auf dem Rückweg von einer Dienstreise. Seinen Sohn erreicht er da schon nicht mehr, weiß aber, dass die junge Familie in der Nacht zu Hause war. Am Nachmittag des 6. Februars kommt Mursaloglu nach Antakya. Von seinem viergeschossigen Haus sind nur noch Trümmer übrig. Als Vorstandsvorsitzender der Warenbörse in Antakya ist er gut vernetzt. Er organisiert Suchhunde, die nach seiner Familie in den Trümmern suchen, und schweres Gerät und Bergleute, die Schicht für Schicht den Schutt durchsuchen. Als er mit seinem Grundstück fertig ist, schickt er die Truppen in die Nachbargrundstücke.

Vielleicht hat die Wucht des Bebens sie dorthin geschleudert? Elf Tage lang durchsuchen sie die Trümmer. Aber auch dort findet er keine Spur der Vermissten. Mursaloglu gibt nicht auf, schickt Bekannte in Krankenhäuser im ganzen Land, um auf den Intensivstationen zu suchen, gibt DNA-Proben, klappert die Friedhöfe ab und sucht sogar Rat bei Wahrsagern, die ihm zwar Hoffnung geben, aber keine konkreten Hinweise.

Hat man sie in ein Krankenhaus gebracht, wo sie vielleicht im Koma liegen? Hat eine Familie das kleine Mädchen vielleicht adoptiert? Hat man sie alle in einem der Massengräber vergraben? War die Wucht des Bebens so stark, dass der Beton die Körper der jungen Familie pulverisiert hat?

Thomas Geiner, erdbebenerfahrener Mediziner und Teil des Teams der Katastrophenhelfer vom Verein Navis, hält letztere Option für kaum möglich. »Dass jemand so zu Schaden kommt, dass man gar nichts mehr nachweisen kann, kann ich mir nur schwer vorstellen.«

Wurden menschliche Überreste mit abgebaggert?

Mursaloglu ist nicht der einzige, der drei Monate nach den Beben noch immer nach Spuren seiner Familie sucht. Offizielle Zahlen zu Vermissten gibt es nicht, aber in Antakya hört man solche Geschichten aus vielen Mündern. Auch der Antikhändler Hasan Güleryüz vermisst seinen Neffen, den 19-jährigen Mustafa Deviren.

Zwölf Tage lang habe Güleryüz jeden Tag ein anderes Familienmitglied begraben müssen. Elf Tage lang sah er den Fuß seines Vater aus einem Trümmerberg ragen, bis der Beton über ihm abgetragen und er beerdigt werden konnte. Auch das Gebäude, in dem der 19-Jährige gewohnt hat, ist bereits von offizieller Stelle abgetragen worden. Gefunden wurde er nicht. Auch Güleryüz spielt verschiedene Szenarien durch. Vielleicht habe der Junge etwas auf den Kopf bekommen und erinnert sich nicht mehr daran, wo er hingehört. Vielleicht ist er im Chaos der ersten Tage von Rettern in eine andere Stadt gebracht worden.

Eine Option, die vielerorts zumindest als Gerücht kursiert, nennt Hasan Güleryüz nicht. Nicht nur in Antakya berichten Leute davon, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt auch menschliche Überreste mit abgebaggert wurden. Statt DNA-Tests von ihnen zu nehmen und sie zu bestatten, so heißt es, seien sie auf den riesigen Schutthalden gelandet, die überall in den betroffenen Gebieten beständig in die Höhe wachsen. Offiziell bestätigt ist das nicht. »Ich könnte mir vorstellen, dass bei den Bergungsarbeiten mit großem Gerät vielleicht Tote, deren Körper sehr zerstört sind, übersehen werden können«, so Geiner.

Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte in den ersten Tagen nach den Beben versprochen, dass erst abgeräumt werde, wenn alle Menschen aus den Trümmern geborgen sind. Ein Versprechen, das viele für schier uneinhaltbar halten.

Zweifel an den offiziellen Todeszahlen

Laut der Regierung sind in der Türkei 50.800 Menschen in Zusammenhang mit den Beben getötet worden. Unter anderem die Türkische Ärztevereinigung TTB meldet starke Zweifel an der Zahl an. »Wir glauben, dass es allein in der Provinz Hatay schon 250.000 bis 300.000 Tote gegeben hat«, sagt Nihat Sahbaz, der derzeit für die TTB in der Stadt Kahramanmaras sitzt. »In Kahramanmaras allein gehen wir schon von 50.000 Toten aus.« Auch die Opposition erhebt Zweifel an den offiziellen Todeszahlen.

Mursaloglu und Güleryüz hoffen weiter auf ein Wunder - oder zumindest eine Spur. In den sozialen Medien teilt Mursaloglu auch zwölf Wochen nach den Beben noch die Vermisstenanzeigen, in der Hoffnung, dass sein Telefon irgendwann doch noch klingelt.

© dpa-infocom, dpa:230505-99-569158/4