Richter beschäftigen sich mit Fällen von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung, die immer wieder im Zusammenhang mit Inzest stehen. In Konstanz steht nun ein 21-Jähriger vor dem Landgericht, weil er sich im vergangenen Jahr mehrmals an seiner Schwester vergangen haben soll. Zu Prozessbeginn schweigt er.
Tägliche Folter über Monate
Laut Anklage soll er seine damals 18 Jahre alte Schwester über Monate täglich gefoltert haben. Dafür soll er sie in sein Konstanzer WG-Zimmer eingesperrt haben. Die Taten spielten sich demnach zwischen Januar und Mai 2022 ab. Mit einem Bügeleisen soll er ihre Hand verbrannt haben, sie mit einem Kabel geschlagen und mit einem Kugelschreiber verletzt habe. Auf Brandwunden an den Füßen soll er Zitronensäure gekippt haben, damit die Schwester noch mehr Schmerzen spüre. An fünf Abenden im Mai soll er sie vergewaltigt haben.
Ihren Mund soll er mit einem Tuch verbunden haben, damit sie nicht schreien konnte. Die beiden Mitbewohnerinnen hatten laut einer Polizistin nichts mitbekommen. Auch den Eltern hatte er glaubhaft gemacht, dass es der Schwester bei ihm gut gehe.
Die Familie war 2021 aus Syrien nach Deutschland geflohen und in einer Flüchtlingsunterkunft in Schwäbisch Gmünd untergekommen. Der Angeklagte lebt schon seit mehr als sechs Jahren am Bodensee. Die Konstanzer Polizei kam durch einen Hinweis aus Schwäbisch Gmünd auf den Angeklagten, der am 13. Mai schließlich festgenommen wurde.
Opfer: »Ich war der Sündenbock«
»Er hat seine ganze Wut an mir rausgelassen - ich war der Sündenbock für alles, was ihn gestört hat«, sagte die heute 19-Jährige in einer gerichtlichen Vernehmung aus dem Juni 2022, die vor Gericht vorgespielt wurde. Mittlerweile macht sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch.
Angeklagt ist ihr Bruder wegen Vergewaltigung, Freiheitsberaubung und gefährlicher Körperverletzung. Obwohl Inzest in Deutschland verboten ist, gehört er in diesem Fall nicht zu den Anklagepunkten. Der Grund: Das Strafmaß beim sogenannten Beischlaf zwischen Verwandten liegt laut Justizministerium bei einer Haftstrafe von bis zu drei Jahren, für Vergewaltigung muss man deutlich länger in Haft. Geregelt ist das Inzestverbot in Paragraf 173 des Strafgesetzbuches. Bestätigt wurde es 2008 vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Umstritten ist es dennoch.
Als Inzest bezeichnet man den Geschlechtsverkehr unter Mitgliedern der Kernfamilie. Also unter Eltern und Kindern, Großeltern und Kindern oder unter Geschwistern. Das Inzestverbot reicht laut Bundesverfassungsgericht bis ins Altertum zurück. Für das Verbot sprechen Befürwortern zufolge vor allem zwei Gründe: die Gefahr von Erbschäden bei Kindern, die aus einem Inzest entstehen können, und der Schutz der Familie, die ohne Ordnungsgefüge ins Wanken geraten würde.
Was der Deutsche Ethikrat sagt
Doch es gibt Ausnahmen: Anal- oder Oralverkehr sind in Deutschland nicht strafbar. Damit sind solche Liebesbeziehungen unter engen Familienmitgliedern erlaubt - vorausgesetzt, dass alle daran Beteiligten erwachsen sind und aus freien Stücken handeln.
Im Jahr 2014 hatte sich der Deutsche Ethikrat dafür ausgesprochen, auch den einvernehmlichen Geschlechtsverkehr unter erwachsenen Geschwistern zu legalisieren. Das Strafrecht sei nicht das geeignete Mittel, um »ein gesellschaftliches Tabu zu bewahren«, hatten die Ratsmitglieder damals argumentiert und für die Streichung des Paragrafen 173 plädiert.
Weder an der Gesetzeslage noch an der Position des Ethikrats hat sich einem Sprecher zufolge seitdem etwas geändert. Doch in der Justiz wird weiter debattiert. Es gibt Stimmen, die Sex zwischen engen Blutsverwandten zwar als nicht wünschenswert betrachten, ihn aber dennoch nicht unter Strafe stellen würden.
Kein Einzelfall
Wenn der Sex nicht einvernehmlich ist - so wie im Konstanzer Fall - landet er auch ohne Inzest-Anzeige vor Gericht. Ein Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik zeigt, dass es sich bei dem Vergehen nicht um einen Einzelfall handelt. Seit 2018 zählte das Landeskriminalamt zwölf weibliche Opfer einer Vergewaltigung durch den Bruder. Bundesweit waren es im Jahr 2021 allein 34 Fälle.
Für die Opfer von Inzest setzt sich der in Stuttgart gegründete Verein Melina seit drei Jahrzehnten ein. »Regelmäßig melden sich Betroffene bei uns«, sagt die Gründerin Ulrike Dierkes, die für ihr Engagement für Inzestopfer mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. Ohne den Paragrafen 173 hätten Opfer gar keine juristische Handhabe, sagt die 65-Jährige, die sich für seinen Erhalt einsetzte.
Der inzestuöse Aspekt bei Sexualstraftaten muss ihrer Ansicht nach strafverschärfend wirken. Vor allem auch, weil die Opfer oft den Halt der Familie verlieren. »Innerhalb der Familie wirkt eine ganz andere Dynamik bei solchen Verbrechen«, so die Expertin. Inzest sei immer noch sehr tabuisiert.
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